Dr. Faraday führt ein ruhiges Leben als Arzt auf dem englischen Land. Eines Tages wird er nach Hundreds Hall gerufen, dem Landsitz der Familie Ayres, die eigentlich von seinem Kollegen behandelt wird. Nachdem er das erkrankte Hausmädchen behandelt hat, wird er sehr freundlich von den drei Mitgliedern der Familie Ayres aufgenommen und zur Teestunde eingeladen. Mrs. Ayres und ihre erwachsenen Kinder Caroline und Roderick leben zwar in dem herrschaftlichen Haus, doch das hat seine besten Zeiten schon lange hinter sich. Es verfällt zusehends, aber die Einkünfte sind gering geworden und reichen nur für die dringendsten Renovierungsarbeiten.
In der folgenden Zeit entsteht zwischen dem Landarzt und der adeligen Familie so etwas wie Freundschaft und Dr. Faraday hält sich immer öfter bei ihnen auf.
Plötzlich geschehen merkwürdige Dinge auf Hundreds Hall. Gegenstände bewegen sich ohne menschliches Zutun, der friedliche Familienhund beißt um sich, schließlich bricht sogar ein Feuer aus. Immer mehr beängstigende Ereignisse geschehen hinter den Mauern von Hundreds Hall und Dr. Faraday kann sich dem Sog nicht entziehen.
Sarah Waters macht es dem Leser nicht leicht.
Einerseits schreibt sie sehr gefällig. Das Leben im ländlichen England wird ebenso großartig eingefangen wie die Charaktere oder die Atmosphäre von Hundreds Hall. All das wird wirklich vor dem geistigen Auge lebendig. Der sehr ausführliche Schreibstil bewirkt, dass ein Eindruck entsteht als würde der Leser auf einer Welle getragen. Manchmal plätschert sie sacht dahin, dann zieht ein Wind auf, das Meer wird unruhiger oder sogar von einem Sturm aufgepeitscht.
Andererseits könnte der Stil ebenso gut von manchem Leser als langatmig empfunden werden. Es geschieht auf vielen Seiten sehr wenig.
Erzählt wird alles aus Dr. Faradays Sicht.
Leider fällt es schwer, eine Beziehung zu den Figuren aufzubauen. Zum einen liegt es an der Perspektive, denn so nimmt man alle Personen nur durch diesen Filter wahr. Allerdings bietet Dr. Faraday ebenso wenig eine Identifikationsfläche und weckt kaum Sympathien. Möglicherweise wurde das sogar bezweckt.
Die Autorin zeichnet ein Gesellschaftsbild ebenso wie ein Psychogramm ihrer Figuren. Insgesamt ist der Roman in vielerlei Hinsicht wie ein literarischer Vexierspiegel. Mal sieht man das eine in ihm dann etwas anderes. Das betrifft den Plot genauso wie die Charaktere.
An einen Schauerroman erinnert Der Besucher nur bedingt obwohl der Klappentext es suggeriert. Dies liegt neben der ruhigen Erzählweise besonders daran, dass die Gruselelemente erst sehr spät einsetzen und nie im Vordergrund zu stehen scheinen. Vielmehr wirkt es als ginge es in ersten Linie um das Schicksal der Ayres. Der Landarzt ist nur ein Beobachter, der immer mehr in ihren Bann gerät. Doch ist es wirklich so? Ist der Titel nicht Der Besucher statt Die Ayres?
Der Plot wirkt schlicht, doch ebenso wie in Hundreds Hall befindet sich etwas Ungreifbares unter der Oberfläche. Sarah Waters lässt Platz für Interpretation. Am Schluss wird eine Möglichkeit angeboten, die sich schon einige Seiten zuvor andeutet, aber es geschieht sehr subtil und es bleibt dem Leser überlassen, ob er sie annimmt. Selbst wenn er sie akzeptiert, bleiben Fragen. Dieses Vorgehen kann gefallen, muss es aber nicht. Im Verhältnis zum Gesamtumfang endet der Roman sehr abrupt und hinterlässt anfangs ein schales Gefühl. Doch wenn man den Schluss dann Revue passieren lässt, wird man noch einmal in den Plot hineingezogen. Man reflektiert und erwägt die Argumente, die für oder gegen die eigene Interpretation sprechen. Es ist auch sehr interessant, die Meinungen anderer Leser kennenzulernen und ihre Schlussfolgerungen zu erwägen. Eigentlich bewegt der Roman nach dem Lesen mehr als währenddessen. Ein zweites Lesen wäre definitiv interessant da man die Ereignisse sicher anders bewerten würde.
Unabhängig davon,ob man nach dem Lesen positiv oder negativ gestimmt ist, muss der Verfasserin zugestanden werden, dass sie ihr Handwerk in jedem Fall versteht.
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