[Rezension] Karen Thompson Walker: Ein Jahr voller Wunder

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Es scheint ein ganz normaler Tag zu werden. Natürlich wird er vierundzwanzig Stunden dauern. Natürlich wird die Nacht die hellen Stunden ablösen. Doch dann erklären Wissenschaftler, dass sich die Erde langsamer dreht. Die Tage und Nächte dehnen sich aus. Erst nur wenige Minuten, doch diese werden sich summieren. Anfangs sind die Auswirkungen auf Menschen, Tiere und Pflanzen gering, doch sie werden zunehmen. Aber wie genau werden sie aussehen? Wie lange wird es dauern, ehe alles ausgelöscht wird? Julia und ihre Eltern bleibt wie allen anderen nichts anderes übrig als abzuwarten, weiterzuleben, sich anzupassen. Als wäre das nicht mehr als genug muss sich Julia auch noch mit den üblichen Problemen einer Heranwachsenden herumschlagen: Freundschaft, Suche nach Anerkennung und die erste Liebe.

Karen Thompson Walker ist ein eindrucksvolles und sehr realistisches Endzeitszenario gelungen. Es benötigt keine Explosionen, Zombies oder Epidemien. Statt mit viel Brimborium und dem großen Effekt aufzuwarten, zeigen sich die Folgen der Katastrophe schleichend. Das Geschehen wirkt dadurch umso glaubwürdiger und unmittelbarer auf den Leser.

Üblicherweise spielt sich in Endzeitromanen eine dramatische Geschichte vor dem Hintergrund der Katastrophe ab. Die Figuren suchen Rettung, verschollene Angehörige oder wollen das Unausweichliche sogar verhindern. Die prekäre Lage soll ihre Schwächen und Stärken herausstellen, sie zu Helden oder Verlierern formen. Hier steht jedoch augenscheinlich ein junges Mädchen mit ihren alltäglichen und für ihr Alter typischen Sorgen im Vordergrund. Ihre Familie, Freunde und die erste Liebe stellen das Personal. Ihre persönliche Geschichte mag auf den ersten Blick durchschnittlich, einfach und für manchen Leser möglicherweise langweilig erscheinen. Doch sie ist es keineswegs, denn die Normalität ihre Alltags lässt die Monstrosität der Verlangsamung umso stärker hervortreten. Ebenso setzt sie gravierende Geschehnisse in Julias Leben erst in Gang. Durch beides erhält der Roman eine ganz eigene, unterschwellige Spannung.

Gleichzeitig wird die Chronologie der Verlangsamung veranschaulicht. Fast beiläufig und doch allgegenwärtig sind ihre Erscheinungen und Auswirkungen. Physikalische Gesetze werden außer Kraft gesetzt, Pflanzen und Tiere sterben, die Menschen gehen unterschiedlich mit den radikalen Begleiterscheinungen um. Versuchen, ihren bisherigen Alltag aufrechtzuerhalten. Somit hat Ein Jahr voller Wunder zwei Protagonisten, die völlig gleichwertig nebeneinander stehen: Julia und die Verlangsamung.

Julia fungiert als Erzählerin, die das Geschehen beobachtet und für ihre elf Jahre überraschend analytisch ist. Die Diskrepanz klärt sich in ihrem Fall später, doch insgesamt bleibt ein wenig der Eindruck, dass Julias Mitschüler häufig nicht unbedingt ihrem angegebenen Alter entsprechend agieren, sondern eher wie etwas ältere Teenager. Der leicht distanzierte, aber sehr pointierte Sprachstil führt jedoch keineswegs dazu, dass der Leser gefühlsmäßig auf Distanz gehalten würde. Ganz im Gegenteil. Es gibt sehr emotionale Passagen, die nicht trotz sondern wegen ihrer oberflächlichen Schlichtheit eine starke Wirkung erzielen. Doch das ist nicht alles, auch ein leiser Humor blitzt immer wieder auf und vertreibt die Düsternis für einige Augenblicke.

Ein Jahr voller Wunder ergänzt das actionreiche Genre des Endzeitromans um ein tiefgründiges, realistisches Werk, das den Leser stark aufwühlen wird, wenn er sich darauf einlässt.

5/5 Schreibmaschinen

 5Writer

Karen Thompson Walker, Ein Jahr voller Wunder, btb 2015.

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2 Kommentare zu „[Rezension] Karen Thompson Walker: Ein Jahr voller Wunder

    1. Endzeitromane lese ich schon hin und wieder „gerne“, aber bitte ohne Zombies 🙂 . Als Jugendroman habe ich es trotz der jungen Protagonistin gar nicht so wahrgenommen, weil sie doch sehr reflektiert ist. Sicherlich wird der Roman aber offiziell so eingeordnet. Nein, Jugendroman sind üblicherweise auch nicht so mein Fall.

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