[Rezension] Jay Archer: Tote Mädchen lügen nicht

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Clay erhält einen Satz Musikkassetten. Doch darauf befindet sich keine Musik, sondern die Geschichte seiner Mitschülerin Hannah. Hannah Baker, die sich das Leben nahm. Sie erzählt ihm von dreizehn Menschen, die eine Rolle in der Geschichte ihres Selbstmords spielen. Die Kassetten hat er erhalten, weil er einer von ihnen ist und er soll sie weiterschicken. An den Nächsten auf ihrer Liste. Doch vorher wird er erfahren, was Hannah zu ihrem drastischen Schritt bewegt hat.

Der Hype um den Roman ist für Nicht-Teenager nicht völlig nachvollziehbar. Leider lässt sich von einem erwachsenen Standpunkt tatsächlich sogar mehr kritisieren als loben. Vielleicht ist es unfair, einen Jugendroman aus einer anderen Sicht zu beurteilen, aber eine Geschichte bleibt letztlich eine Geschichte.

Es ist Jay Ashers großer Verdienst, die Aufmerksamkeit auf das wirklich wichtige Thema „Mobbing“ zu lenken und es literarisch der Gruppe näherzubringen, die heute wohl am meisten davon betroffen ist. Sei es als Opfer oder Täter. Das Phänomen machte Jugendlichen vermutlich immer schon zu schaffen. In Zeiten des Internet aber sicher mehr denn je. Allerdings wird gerade dieser Bereich vom Autor völlig ausgespart.

Darüber hinaus hat der Autor einen sehr begrenzten Rahmen gewählt. Clay hört sich die Kassetten an, Hannah erzählt. Nur am Rande agieren zwei weitere Beteiligte. Dementsprechend lernt der Leser nur die Sicht dieser vier Personen kennen, obwohl es eine Vielzahl weiterer Beteiligter gibt. Der Leser erfährt nicht, wie diese die Sache wahrnehmen. Warum sie so handeln, wie sie sich vorher und dannach fühlen etc. Besonders die Perspektive von Hannahs Eltern, ihren Lehrern oder auch anderer Opfer wäre aufschlussreich gewesen. Wie haben sie die Abläufe wahrgenommen? Haben Sie Hilfsangebote gemacht? Gab es nie die Möglichkeit der Opfer, sich auszutauschen oder gemeinsame Schritte einzuleiten? War wirklich alles so aussichtslos wie Hannah es empfunden hat? Auch die Wirkung ihres Selbstmords auf das Umfeld zu zeigen, hätte dem Ganzen mehr Tiefe verliehen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Menge an Personal. Teilweise ähneln sich die Namen sogar. So ist es schwierig, die Personen jederzeit den Dingen zuzuordnen, die vorher schon über sie eingeflossen sind. Man muss sehr aufmerksam lesen oder sich vielleicht sogar Notizen zu den einzelnen Schülern machen, um nicht später zurückblättern zu müssen. Hierdurch geht ein wenig die Wirkung der Ereignisse verloren.
Auch wird nur bedingt die Spirale deutlich, in der Hannah sich gefangen sieht und aus der es ihrer Ansicht nach kein Entkommen gibt. Möglicherweise empfinden dies jüngere Leser mitunter aber anders, weil sie noch wenig Vorstellung davon haben, wie man sich erfolgreich zur Wehr setzen kann.

Es ist teilweise schwierig, Hannahs Verhalten nachzuempfinden. Einerseits wirkt sie in ihrer Erzählung nicht besonders schüchtern. Andererseits stellt sie sich den Menschen, deren Auftreten sie als schmerzlich empfindet, selten vehement entgegen. Außerdem scheint sie nie ein offenes Gespräch mit ihren Eltern oder anderen Opfern zu suchen. Den Vertrauenslehrer sucht sie erst auf, als ihr Entschluss schon so gut wie feststeht. Sie scheint bei ihm eher die Bestätigung zu suchen, dass jeder ihr feindlich gesinnt ist.
Der größte Kritikpunkt ist jedoch, dass Hannahs Entscheidung als folgerichtig dargestellt wird. Es wird keine Alternative, kein Ausweg aufgezeigt. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass es keine andere Möglichkeit gibt, sich der Situation und damit den Tätern zu entziehen.

Der Spannungsbogen ist eher flach, schraubt sich weit weniger als erwartet in die Höhe. Die Frage, die Clay umtreibt, nämlich was Hannah ihm zur Last legt, wird eher konservativ beantwortet. Dafür wird sehr schön herausgearbeitet, wie vermeintlich belanglose Entscheidungen weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen können. Wie Dinge, die für den einen Nichtigkeiten sind für den anderen eine riesige Bedeutung erlangen können.

Die Sprache orientiert sich völlig am jugendlichen Zielpublikum und bietet keine Herausforderung. Allein die raschen Perspektivwechsel zwischen Clay und Hannah fordern Aufmerksamkeit, um sie immer richtig zuzuordnen. Der Gewöhnungseffekt stellt sich aber recht schnell ein.

Insgesamt ist es Tote Mädchen lügen nicht gelungen, ein wichtiges Thema in den Fokus zu rücken. Ein Thema, das erschreckend ist und für viele SchülerInnen erschreckender Alltag ist. Wie die Resonanz zeigt, ist es ein Thema, das vielen Jugendlichen unter den Nägeln brennt. Allerdings mangelt es an inhaltlicher Tiefe, die auch einem Jugendroman gut steht. Das größte Versäumnis ist jedoch, dass kein positiver Weg aufgezeigt wird, den Hannah statt des Selbstmords hätte gehen können. Keine Möglichkeit, sich effektiv zu wehren oder Hilfe zu finden. Das ist wirklich enttäuschend und lässt jeden jungen Leser, der ein ähnliches Problem hat, allein.

2/5 Schreibmaschinen

2Writer

Jay Asher, Tote Mädchen lügen nicht, cbt 2012.

15 Kommentare zu „[Rezension] Jay Archer: Tote Mädchen lügen nicht

  1. Danke für deine Eindrücke. Genauso hatte mir auch eine Freundin die Unterschiede zur Serie geschildert, in der zwar die Perspektive auf andere Charaktere geweitet wird, aber trotzdem nichts gutes bei herauskommt.
    Wie bringt Hannah sich im Buch um? Da war sich die Damen, die das Buch in der Jugend gelesen hatte nicht mehr sicher.
    Und ich finde es schade, dass Jugendliteratur als einfältig und wenig kulturell angesehen ihren Platz in der Belletristik gefunden hat. Dabei sind doch tolle Geschichten mit tollen Identifikationsfiguren so wichtig in der Jugend.

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    1. Im Buch nimmt sie Tabletten.
      Das finde ich auch schade, allerdings gibt es auch gute Jugendbücher. Die Vollendet-Reihe von N. Shusterman fand ich grandios. Auch habe ich in meiner Jugend durchaus sehr gute Jugendbücher (das Meiste war jedoch nicht explizit als Jugendliteratur ausgewiesen) gelesen, die mich jahrelang nicht losgelassen haben. Ob ich sie heute allerdings auch noch als so gut bewerten würde, kann ich nicht sagen… Auf jeden Fall scheinen viele Autoren zu denken, dass Jugendliteratur auch ruhig mal einfältig daherkommen kann.

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      1. Krass, dann hatte die Freundin von mir Recht. In der Serie schneidet sie sich die Pulsadern auf, was einfach mal gar nicht geht. Das wurde optisch so ausgeschlachtet, das glaubst du gar nicht.

        Ich habe mir die Reihe mal aufgeschrieben. Danke für den Tipp! Ich lasse mir seit Jahren Zeit mit den 12 Bänden der Darren-Shan-Reihe. Und bei „Anne of Green Gables“ lasse ich mir auch sehr viele Jahre Zeit. *lach*

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      2. Von „Anne auf Green Gables“ war ich ein großer Fan der Real-Serie. Gelesen hab ich es leider nie.

        Warum haben die die Selbstmordart denn geändert? Weil das „optisch mehr hergibt“? Bah, ist ja widerlich. Eigentlich hatte die Hannah im Buch ihre Gründe, es mit Tabletten zu machen und nicht auf eine „expressivere“ Weise….

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  2. Es gibt auch eine Serie dazu, aber ich finde das dass Thema „Selbstmord“ darin viel zu verharmlost dargestellt wird. Also habe ich nach der 4 Folge ausgemacht.

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  3. Tolle Rezension, ich sehe das ganze auch so wie du… war etwas überrascht wie das ganze zu Ende ging… die Serie finde ich aber besser umgesetzt als das Buch! Hast du diese auch schon geschaut?

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    1. Der Roman kursiert ja schon eine Weile als Bestseller, aber irgendwie hat er mich nie so sehr angesprochen, dass ich ihn lesen wollte. Im Zuge dessen, dass die Serie nun überall besprochen und gelobt wird und mir das Buch auf einem Flohmarkt günstig in die Hände fiel, griff ich zu. Die Serie habe ich aber nicht gesehen und weiß auch nicht, ob ich es noch tun möchte. Allerdings kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die Geschichte als Serie besser funktioniert. Man hat mehr Raum, um die Geschichte vielschichtiger und detaillierter aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen. Die knapp 290 Seiten reichen dafür meines Erachtens nach wirklich nicht aus.

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