Marie Jalowicz ist 19 Jahre alt, als ihr Vater 1941 stirbt und seine Tochter in Berlin zurücklässt. Während nach und nach ihre Verwandtschaft deportiert wird, entscheidet sich die junge Frau, dem Deportationsbefehl nicht zu folgen. Sie will sich retten und leben. Also geht sie in den Untergrund. Immer auf der Suche nach einer Bleibe und Nahrungsmitteln schlägt Marie sich durch. Mal hilft ihr der Zufall, mal ihre rasche Auffassungsgabe und Anpassungsfähigkeit gefährlichen Situationen zu entkommen. Aber auch viele mehr oder weniger vertrauenswürdige Menschen helfen ihr. Einmal schafft sie es sogar bis nach Bulgarien zu reisen, in der Hoffnung über die Türkei nach Israel flüchten zu können. Doch leider muss sie wieder nach Berlin zurückkehren.
Marie Jalowicz Simon hat ihre Erlebnisse fünfzig Jahre später auf 77 Tonbänder festgehalten. Ihr Sohn hat auf dieser Grundlage Untergetaucht verfasst, in dem er ebenfalls seiner Mutter das Wort überlässt.
Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich die Helfer und ihre Milieus waren. Sehr prägnant werden sie beschrieben. Jalowicz Simons Rückschau zeigt außerdem, dass weder Schwarz noch Weiß existiert. So gab es Helfer, die durchaus eine rechte Gesinnung hegten. Jene, die sich durch ihre Hilfe selbst erhöhen oder etwas Spannendes erleben wollten. Oder solche, die aus finanziellen Interessen handelten.
Auch auf sich selbst wirft die Erzählerin einen unverstellten, ehrlichen Blick. Dass moralische Bedenken wenig Platz in ihrem Dasein als Untergetauchte hatten, lässt sich leicht nachvollziehen. Permanent stellt sich der Leser die Frage, wie er wohl selbst in dieser oder jener Situation gehandelt hätte. Marie Jalowicz Simon zeigt große Fähigkeit zur Selbstreflexion, wenn sie ihre eigene Entwicklung während dieser Verfolgungsjahre nachvollzieht.
Häufig wirkt es auf den Leser, als hätte Marie aufgrund ihrer Herkunft auf weniger Gebildete herabgeblickt. Sie beschreibt deren Äußeres und ihre Lebensumstände mit harschen Worten, macht sich auch über sie lustig. Die Erzählerin entstammte einer gutbürgerlichen Familie, ihr Vater war Rechtsanwalt und sie selbst hatte eine höhere Schule besucht. Ihre Herkunft und Bildung haben ihr vielfach geholfen, machten sie aber wohl auch etwas hochmütig. Vielleicht war es auch der Versuch, ihr altes Ich zu bewahren, sich nicht mit dieser fremden und für sie abstoßenden Welt gemeinzumachen.
Marie Jalowicz Simon hat ihre Erinnerungen viele Jahre später festgehalten, so dass eine etwas differenzierter Blick auf die armseligen, bildungsfernen Milieus möglich gewesen wäre. Zumal sie einmal erklärt, dass das Bürgertum während der Judenverfolgung versagt habe, während die Arbeiterschaft den Betroffenen vielfach geholfen habe. Andererseits soll das Buch vielleicht möglichst genau Maries Einstellung während der Verfolgung zeigen.
Vermutlich ist die Gesamtsituation für Maries harten Blick hauptverantwortlich. Wie soll jemand Verständnis aufbringen, der sich selbst in einer erbarmungslosen Situation befindet und von anderen abhängig ist? Vielleicht hat sie ihre Emotionen eingeschlossen, um mit den brutalen Gegebenheiten fertigzuwerden. Dass sie auch nach dem Krieg selten über die betreffende Zeit sprach, stützt diese Vermutung.
Und es ist für die Authentizität jedweder Erinnerungen wichtig, dass auch für den Berichtenden weniger vorteilhafte Passagen nicht „begradigt“ werden. Es gehört eben zur Realität dazu, dass Menschen sowohl positive als auch negative Eigenschaften haben.
Es liegt in der Natur der Sache, dass viele Personen in Erscheinung treten. Es ist nicht immer leicht für den Leser, bei einem späteren Auftauchen die Namen den Personen wieder richtig zuzuordnen. Dies kann dem Buch jedoch nicht zum Nachteil gereichen.
Untergetaucht macht es dem Leser also nicht leicht. Weder in Bezug auf das Thema noch auf die Hauptperson. Nichtsdestotrotz sind Marie Jalowicz Simons Erinnerungen in jedem Fall ein aufschlussreiches Zeugnis über die Motive der Helfer, die Nöte der Verfolgten, die Entwicklung von Beziehungen und was geschichtliche Abläufe im Leben Einzelner bewirken. Es wird klar, dass der Zufall, die Hilfe anderer und das eigene Geschick, sich Situationen anzupassen, für’s Überleben entscheidend waren.
3/5 Schreibmaschinen
Marie Jalowicz Simon, Untergetaucht – Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 – 1945, S. Fischer 2014.