In mehreren Interviews, welche die Autorin Magrit Delius mit Gisela Jacobius geführt hat, erinnert sich diese an Begebenheiten aus ihrem Leben. Für den vorliegenden 10. Band der Reihe Jüdische Memoiren hat Delius die Interviews gekürzt und zu einem einzigen Bericht in Form eines Gesprächs zusammengefasst. Dieses handelt von Giselas Elternhaus, Kindheit und Jugend, ihrer Zeit im Berliner Untergrund, der Auswanderung nach Israel sowie ihrer Rückkehr nach Deutschland.
Leider wirkt sich die Entscheidung. Frau Jacobius Erinnerungen in Form eines „narrativen Interviews“ zu erschließen, nachteilig aus. Die Autorin hat sich dafür entschieden, „damit die Erzählung unbeeinflusst ihren Gang nehmen kann.“ Dieses Ziel hat sie unbestritten erreicht, wird damit aber weder der Zeitzeugin, noch dem Thema oder den Lesern gerecht (wobei eins das andere bedingt).
Natürlich sollte eine biografische Erzählung so wenig wie möglich beeinflusst sein, wenn es um ganz persönliche Erlebnisse, Gefühle und Eindrücke geht. Der Befragte soll nicht in eine bestimmte Ecke gedrängt oder ihm Aussagen suggeriert werden. „Unbeeinflusst“ ist aber nicht gleichbedeutend mit „ziellos“ und „ungeordnet“. In diesem Fall trifft aber genau das leider zu. Ein versierter Interviewer müsste sein Gegenüber mittel gezielter, aber nicht tendenziöser Fragen an tieferliegenden Erinnerungen heranführen. Sollte wie ein Archäologe vergrabene Bilder aus dem Unterbewusstsein hervorholen. Frau Delius fungiert jedoch in erster Linie als Stichwortgeberin, wenn Gisela Jacobius passende Wörter oder Formulierungen nicht einfallen. Häufig wirft sie sogar nur ein „Ja“ oder „Hm“ ein. Das ist leider zu wenig, um wirklich informative und ergiebige Aussagen zu erhalten. Da sich Frau Jacobius verständlicherweise aufgrund der vergangenen Zeit oder Verdrängung an viele Begebenheiten, Personen und Daten nicht mehr genau erinnern kann, wäre zudem eine gründliche Recherche durch die Autorin unabdingbar gewesen. So hätte sie in den Interviews einen stärkeren Bezugsrahmen schaffen können, an dem sich beide Teilnehmer hätten orientieren können. Fotos von Gebäuden und Personen hätten möglicherweise ebenfalls helfen können, um Assoziationen bei Frau Jacobius zu wecken. So bleibt zu häufig ein „Ich weiß nicht mehr genau“ oder „Ich kann mich nicht erinnern“ im Raum stehen.
Zum anderen fragt man sich, was Frau Delius unter „Überarbeitung“ versteht. Dass in einem Gespräch die Themen hin und her springen, versteht sich von selbst. Dass den Gesprächspartnern zu unterschiedlichen Zeitpunkten, Ergänzungen zu zuvor besprochenen Themen einfallen, ebenso. Auch, dass sich die Befragte manchmal überhaupt nicht oder nur sehr begrenzt erinnern kann. Möchte man die Lebensgeschichte jedoch Dritten zugänglich machen, dann sollte man das Ganze stärker ordnen und straffen. Stattdessen zerfasert die Erzählung. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich. Auch wenn sich Frau Jacobius im Gespräch verständlicherweise häufig in den Sätzen verhaspelt oder sie nicht beendet, so muss sich das nicht in gleichem Maße in der schriftlichen Umsetzung wiederfinden. All das ist authentisch, geht aber enorm zu Lasten des Leseflusses und der Verständlichkeit.
Frau Delius schafft es nicht, Gisela Jacobius‘ Erinnerungen den Rahmen zu schenken, den sie verdient hätten. Sie gibt sich mit dem Gesagten zufrieden, ohne zu versuchen, mehr und Hintergründiges zu erfahren. Natürlich stimmt es, dass die Erinnerungsprozesse von NS-Verfolgten immer sehr schmerzhaft und schwierig sind. Allerdings ist davon auszugehen, dass sie bereit sind diesen Weg zu gehen, wenn sie sich zu einem Interview bereiterklären. Und dann steht der Fragende in der Pflicht und Verantwortung, das Unterfangen so fruchtbar wie möglich zu machen. Frau Delius hat in diesem Fall die Chance nicht wahrgenommen.
Insgesamt ist Gisela Jacobius – als Jüdin in Berlin inhaltlich wenig informativ oder aussagekräftig. Allerdings verdeutlicht es eindrucksvoll, welche Schwierigkeiten in der Arbeit mit Zeitzeugen liegen. Die wenigsten Menschen können sich druckreif erinnern. Wie im Fall von Gisela Jacobius sind es eher Bruchstücke, die sich nicht von allein zu einem Ganzen fügen. Es bedarf dann professioneller Unterstützung, um sie in einem angemessenen Rahmen anderen zugänglich zu machen.
Untröstliche 2 von 5 Schreibmaschinen
Die fehlenden Schreibmaschinen gehen allein auf Konto der mangelnden Umsetzung.
Magrit Delius, Gisela Jacobius – als Jüdin in Berlin. Jüdische Memoiren Band 10, Hentrich & Hentrich 2005.