1888 reist die alleinstehende, nicht unvermögende Harriet Baxter nach Glasgow, um die Internationale Ausstellung zu besuchen. In Glasgow hofft Harriet auf ein wenig Erholung und Ablenkung zu finden. Eines Tages beobachtet sie, wie eine ältere Dame auf der Straße zusammenbricht. Dank einiger Kenntnisse in Erster Hilfe kann sie der Frau das Leben retten. Dankbar lädt Elspeth Gillespie ihre Retterin zu sich nach Hause ein. Als Harriet der Einladung folgt, erfährt sie, dass Elspeths Sohn ein aufstrebender Maler ist. Zufälligerweise ist sie Ned Gillespie sogar schon einmal begegnet, als eines seiner Gemälde in London ausgestellt worden war.
In den folgenden Monaten freundet Harriet sich immer stärker mit der Familie an und erlebt deren größte Tragödie mit.
1933 ist Harriet Baxter eine betagte Dame, die mit ihrer Haushälterin in London lebt. Verwundert, dass noch nie ein Buch über Ned Gillespie verfasst wurde, beginnt sie ihre Erinnerungen zu notieren. Sie beschreibt die schöne gemeinsame Zeit, aber auch wie Rose, die jüngste Tochter der Gillespies spurlos verschwand. Was geschah damals wirklich? Und warum hat Ned schließlich alle seine Gemälde, derer er habhaft werden konnte, zerstört?
Gillespie and I wirkt tatsächlich wie ein autobiographischer Bericht. Die Authentizität wird nicht allein durch Harriets ausführliche Erzählweise erreicht, sondern auch durch das geschickte Platzieren von Lokal- und Zeitkolorit. Harris erzählt kenntnisreich und mit großer Selbstverständlichkeit vom Viktorianischen Zeitalter, ohne jemals zu langweilen. Es wirkt insgesamt absolut homogen und glaubwürdig.
Die beiden Erzählstränge sind auf den unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelt. Auch im Jahr 1933 geschehen interessante Dinge und obwohl die Handlung hier weitaus weniger umfangreich ausfällt, liefert sie spannende Momente, die mit früheren Geschehnissen in Verbindung stehen oder auch nicht.
Das Erzähltempo ist insgesamt gemächlich und baut dennoch einen Sog auf, weil der Leser sich fragt, was hinter dieser oder jener Andeutung stecken mag. Lange bleibt er im Dunkeln, wohin die Geschichte führen soll und in gewisser Weise bleibt er es über ihr Ende hinaus. Das Leben von Harriet aber auch der Gillespies ist voller kleiner und großer eigentümlicher Gegebenheiten, so dass man neugierig ist, was als nächstes geschieht oder ob es eine Auflösung für die Geschehnisse geben wird.
Dass Harriet eine gebildete Dame ist, spiegelt sich in ihren Worten wider. Die Sprachmelodie und Formulierungen sind sehr gefällig und machen es leicht, der Handlung zu folgen. Einerseits klingt Harriets Geschichte nachvollziehbar, aber zum Ende hin mehren sich die Zweifel, ob sie völlig aufrichtig ist. Geschickt bleibt der Leser bis zur letzten Seite im Unklaren, ob er ihr glauben kann oder nicht. Der letzte Satz scheint dann den richtigen Weg zu weisen und lässt den Leser diverse Situationen und Äußerungen noch einmal Revue passieren. Das ist wirklich brillant, denn man beginnt die Geschichte im Geiste noch einmal aufzurollen. Somit erklimmt der Roman quasi eine weitere Ebene und wirkt über den eigentlichen Lesevorgang hinaus.
Es bleiben nur zwei kleine Kritikpunkte.
Zum einen fällt die Erzählung teilweise recht weitschweifig ist. Es bleibt auch in der Rückschau vielfach unklar, inwieweit diese oder jene Begebenheit wirklich relevant gewesen ist. Zum anderen wären ein paar mehr Hinweise auf die Ambivalenz der Erzählung wünschenswert gewesen, die während des Lesens stärkere Zweifel gesät hätten. So hätte der Leser noch mehr rätseln und deuten können. Genauso begrüßenswert wäre die Fortsetzung bestimmter Erzählstränge gewesen. Stattdessen bleibt das Gefühl, dass manche Dinge nicht weiterverfolgt werden, obwohl es noch einiges dazu zu sagen gäbe. Auch wirken manche Details wie wichtige Hinweise, verlaufen dann aber im Sande. Man wartet darauf, dass sie relevant werden und bleibt dann im Regen stehen.
Gillespie and I bietet eine interessante, ereignisreiche und atmosphärische Geschichte mit vielschichtigen Charakteren. Der Roman verbreitet eine subtile Spannung, die süchtig macht und das Ende verstärkt die Eindrücke sogar noch.
4/5 Schreibmaschinen
Jane Harris, Gillespie and I, Faber & Faber 2012.