Im Januar 1945 sind die Niederlande von den Deutschen besetzt und der zwölfjährige Anton Steenwijk lebt mit seinen Eltern und Bruder Peter in einem Reihenhaus in Haarlem. Eines Januarabends ertönen in der Straße Schüsse. Durch ein Fenster beobachtet die Familie, wie Nachbar Korteweg und seine Tochter den toten Kollaborateur Fake Ploeg vor ihr Haus bringen. Peter rennt hinaus, um Ploeg zurück vor das Haus der Nachbarn Kortewegs zu bringen. Sie alle ahnen, dass die deutsche Vergeltung brutal ausfallen wird und sich vor allem gegen die richtet, vor deren Tür der Tote gefunden wird. Schon sind die Deutschen da. Peter verschwindet, Anton wird von seinen Eltern getrennt, ihr Haus niedergebrannt. Außer dem Jungen überlebt niemand aus der Familie die Vorgänge. Erst viel später erfährt er, was in jener Nacht genau passiert ist.
Harry Mulisch begleitet seinen Protagonisten Anton nach dem Attentat durchs Leben, allerdings in Zeitsprüngen. Die Hörer/Leser begegnen ihm 1952, 1956, 1966 und 1981. Jedes mal erfahren sie etwas über sein Situation. Jedesmal trifft er zufällig auf Personen, die an den Vorgängen in jener Januarnacht 1945 mehr oder weniger direkt beteiligt gewesen sind. Dazu gehören u.a. der Schütze, der Ploeg umbrachte, der Sohn des Kollaborateurs, mit dem Anton in dieselbe Schulklasse ging, und die Nachbarstochter, die den Toten vor die Tür der Steenwijks legte. Jeder von ihnen ermöglicht neue Einblicke in die Vergangenheit. Jeder weiß etwas, das die anderen nicht wissen können. Schnell wird klar, dass jede Sicht auf die Nacht zwangsläufig subjektiv ist. So wird vieles erst durch die Gespräche aufgeklärt oder umgedeutet. Das gleicht einem Puzzle, ist sehr spannend und lässt auch den Hörer/Leser alles immer wieder überdenken.
Die Figuren sind allesamt sehr authentisch und glaubwürdig, ob sympathisch oder nicht. Die deutschen Besatzer sind lediglich Randfiguren, während die niederländischen Akteure im Zentrum stehen. Die Januarnacht stellt für jeden von ihnen ein Trauma dar und hat ihr Leben stark beeinflusst. Dadurch sind sie alle miteinander verbunden, ob sie wollen oder nicht.
Mulisch arbeitet mit viel psychologischem Verständnis und Feingefühl. Die Auswirkung der damaligen Geschehnisse auf Antons Leben und seine Psyche sowie sein Umgang damit sind jederzeit nachvollziehbar. So sehr er sich auch bemüht, er kann mit der Vergangenheit nicht abschließen, denn immer wieder kehrt sie in Form von Erinnerungen oder Begegnungen zurück. Teilweise wird das kunstvoll mittels sprachlicher Bilder untermauert (Gegensätze, Metaphern, Motive).
Die größte Stärke des Romans ist allerdings seine philosophische Dimension. Viele tiefgehende Fragen werden aufgeworfen, fertige Antworten hingegen nicht. Vermutlich gibt es auch gar keine eindeutigen. Stattdessen wird dem Hörer/Leser viel Stoff zum Nachdenken gegeben. In jedem Fall wird klar, dass es sehr schwierig ist, in der Sache zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Nur wenig ist, wie es scheint oder die Zeit hat Dinge oder ihre Bewertung verändert. Das beherrschende Thema ist Schuld, der Umgang mit ihr und die Frage, ob in dieser Geschichte überhaupt jemandem die Schuld zugeschrieben werden kann. Schließlich schwebt über allem außerdem die Frage, wie man sich selbst wohl an Stelle der einen oder anderen Person verhalten hätte.
Das Attentat erhält eine klare Lese-/Hörempfehlung, da Harry Mulischs Werk vom Aufbau und Inhalt vielschichtig, spannend und aufschlussreich ist. Burghart Klaußner liest abwechslungsreich und gibt den unterschiedlichen Figuren passende Ausdrucksweisen. Seine Vortragskunst erleichtert die Konzentration auf das komplexe Thema und die ebenso komplexe Handlung statt sie zusätzlich zu erschweren. Trotz allem wirkt der Roman nicht schwer oder deprimierend. Auch das ist zum Teil Klaußners Verdienst.
Der Roman lädt ein, ihn mehr als einmal zu hören/lesen, denn es lassen sich wohl gar nicht alle Hinweise und Erkenntnisse beim ersten Mal erfassen.
5/5 Schreibmaschinen
Harry Mulisch, Das Attentat, Patmos-Verlag 2007 (ungekürzte Lesung – 5 CDs).
Die Rezension ist Teil der Blogchallenge „Wider das Vergessen“ von Lesefreude.