[Netflix] Wir müssen reden über: Dokumentarfilm „Die Geschichte von Rachel Dolezal“ (The Rachel Divide)

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Ich entschuldige mich jetzt schon mal, dass das Folgende sehr ausufert, aber die Geschichte von R. Dolezal beeinhaltet einfach so viele interessante Aspekte, die ich beleuchten möchte.

2015 verkündeten die Eltern der US-Bürgerrechtlerin und Kulturwissenschaftlerin Rachel Dolezal öffentlich, ihre Tochter sei entgegen ihrer eigenen Behauptungen nicht schwarz. Dolezal konnte die Behauptung nicht abstreiten, da sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater offensichtlich weiß sind. Daraufhin brach ein riesiger Aufruhr los, der die Wissenschaftlerin nicht nur ihre Jobs, sondern auch ihre Reputation kostete. Der Dokumentarfilm setzt nur wenige Wochen nach der Enthüllung ein und folgt Rachel Dolezal über mehrere Monate, lässt außerdem ihre Familie und Freunde ebenso wie ihre Gegner zu Wort kommen.

Derzeit schaue ich zwischendurch gerne mal einen Dokumentarfilm und dieser wurde mir von Netflix vorgeschlagen. Zuvor hatte ich noch nie von diesem „Fall“ gehört, so dass ich unvoreingenommen an die Geschichte herangegangen bin. Neugierig machte mich allein die knappe Beschreibung: „Rachel Dolezal, ihre Familie und ihre Kritiker haben mit den Folgen einer nationalen Debatte zu kämpfen, die durch Zweifel an ihrer ethnischen Herkunft entfacht wurde.“ Ohne mich weiter zu informieren, ließ ich den Film einfach auf mich zukommen.

Der warf dann für mich so viele Fragen auf, dass ich ihn fast als mindblowing bezeichnen würde. Ich maße mir nicht an, Antworten auf die Fragen gefunden zu haben, aber im Folgenden möchte ich mit Euch einige meiner Überlegungen dazu teilen. Vorher möchte ich aber noch unbedingt darauf hinweisen, dass ich keine Wertungen vornehme. Das Themengebiet bietet einige viele Fallstricke und damit Möglichkeiten, sich missverständlich auszudrücken. Deshalb möchte ich ausdrücklich erklären, dass keine meiner Aussagen in irgendeiner Weise negativ gegenüber Einzelpersonen oder Gruppen gemeint ist. Ich versuche mich lediglich auf einem „intellektuellen“ Weg mit dem Themengebiet auseinanderzusetzen (oh mann, hört sich das hochtrabend an 😉 ).

Die Ankündigung des Dokumentarfilms löste in den USA einen Proteststurm aus. Man solle der Lügnerin Rachel Dolezal kein Forum bieten. Es wäre typisch, dass einer Weißen, die vorgibt, schwarz zu sein, mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde, als farbigen Frauen selbst, obwohl diese viel mehr zu sagen hätten. Im Film erklärt eine Frau, dass von hundert Rezensionen der New York Times lediglich zehn Prozent die Werke schwarzer AutorInnen behandeln würden. Aber heißt das im Umkehrschluss, dass nur noch Bücher farbiger SchriftstellerInnen besprochen werden sollten? Natürlich nicht. Es sollte eine ausgewogene Auswahl vorgenommen werden. Ich denke, eine Veröffentlichung sollte sich nach dem möglichen Erkenntnisgewinn und der Nachfrage richten und nicht nach der Hautfarbe. Diese sollte bei der Auswahl eines Buches meiner Meinung nach gar keine Rolle spielen. Weder auf die eine, noch die andere Weise.
Rachel Dolezals Geschichte und wie andere damit umgehen ist interessant und aufschlussreich. Wenn Menschen mehr darüber erfahren möchten, warum soll es keinen Film oder Buch geben? Genau dasselbe trifft auf alle AutorInnen dieser Welt zu. Wenn ihre Geschichten innovativ und spannend sind und jemand sie lesen möchte, dann sollen sie verlegt und besprochen werden. Das vorneweg.

Trotz ihrer Abstammung und der Kritik an ihrem Handeln hält Rachel weiterhin daran fest, eine schwarze Frau zu sein. Sich selbst bezeichnet sich als „transblack“, erzählt, was zu ihrem Identitätswechsel geführt hat. Dolezal verortet die Gründe in ihrer Kindheit und psychologischen Vorgängen. Ihre Gegner nehmen ihr das nicht ab, unterstellen ihr vielmehr, die „schwarze“ Identität benutzt zu haben und gleichzeitig alle Vorteile einer hellen Hautfarbe gehabt zu haben. Wer richtig liegt, lässt sich für mich nicht feststellen und ich möchte mich auf keine der beiden Seiten stellen.

In Rachel Dolezals Wunsch, einer anderen Ethnie angehören zu wollen, sehe ich ungeachtet der Motive eine ganz persönliche Entscheidung. In den USA ist es aber keine persönliche Sache. Das ist für ein Land, in dem Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Hautfarbe tagtäglich Rassismus, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind, kaum verwunderlich. Trotzdem hat mich die Aggression gegen Rachel Dolezal ziemlich überrascht.

Rachel Dolezals „schwarze“ Identität wurde lange von ihrer Umgebung akzeptiert. Menschen, die sie kennenlernten, sahen in ihr eine farbige Frau. Sie bekam einen Lehrauftrag an der „schwarzen“ Howard University in Washington und wurde Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation NAACPR. Dolezal fühlte sich als Schwarze und trug das nach außen. Ihre Arbeitgeber, Bekannten und Mitmenschen wunderten sich möglicherweise über ihre ziemlich helle Haut, waren aber dennoch von ihrer Identität überzeugt und vermittelten ihr das. Das wiederum stärkte Rachels Glauben, wirklich farbig zu sein. Ich denke, eins bedingte das andere. Rachel schaffte sich ihre eigene Realität und die übrigen Mitspieler hatten nichts dagegen, um es mal so zu formulieren. Hätte sie dieselbe Karriere machen können, wenn ihre Haut tiefschwarz gewesen wäre? Das ist wiederum eine andere Frage.
Es half Rachel, dass sich ein ganzes Spektrum an Teints unter dem Begriff „Schwarz“ vereinen. Jemand kann sehr hellhäutig und dennoch ein Teil der schwarzen Community sein. Was aber macht jemanden zu einem Angehörigen, wenn es nicht die eine bestimmte Färbung der Haut ist? Eine äußere Haltung kann es anscheinend auch nicht sein, denn Rachel hat sich ja mit der Gruppe identifiziert und sich zudem für schwarze Belange eingesetzt. Doch ihre Kritiker meinen, sie habe damit nur ein Stereotyp gelebt. Dasselbe wird über ihre äußere „Angleichung“ gesagt. Sie  kommt also mit ihrer „neuen Identität“ durch, weil sie die Erwartungen der Gesellschaft an eine farbige Frau erfüllt.

Was bestimmt also die Identität? Läuft es also letztlich auf die familiäre Herkunft hinaus? In den USA sehen viele die „One drop rule“ als maßgeblich an. Der sprichwörtliche Blutstropfen bzw. ein farbiger Vorfahr soll demnach die Zugehörigkeit zur schwarzen Gemeinschaft bestimmen. Aber warum fragt niemand, welches Weltbild dahintersteht, nämlich dass dieser eine Vorfahr quasi Generationen davor und danach „überschreibt“ und damit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Ist das etwas Positives oder Negatives? Und warum gilt es nicht umgekehrt? Warum macht nicht ein „weißer“ Vorfahr alle Nachkommen zu Weißen? In jedem Fall kann solch eine Denkweise den Boden für Diskriminierung und Ausgrenzung etablieren.

Warum ist es aber bei einer Gruppe okay bzw. gesellschaftlich akzeptiert, dass sie Personen aufgrund äußerer Merkmale aus ihrem Kreis ausschließt und für eine andere nicht? Am Ende des Dokumentarfilms stellt die Regisseurin fest, dass nur Schwarze selbst darüber bestimmen könnten, wer zu ihnen gehört. Natürlich verstehe ich, warum man es (als farbiger Mensch) richtig findet, dass Schwarze die Deutungshoheit über das „Schwarzsein“ übernehmen möchten. Schwarze US-AmerikanerInnen sind ja mehr als „nur“ durch ihre Hautfarbe vereint. Sie sind auch aufgrund der Geschichte und der noch heute herrschenden Diskriminierung eine Art Schicksalsgemeinschaft. Es ist also verständlich, dass sie sich nicht von außen diktieren lassen wollen, wer Teil dieser besonderen Gemeinschaft sein kann. Schon gar nicht von weißen Menschen.
Während einer Podiumsdiskussion sagt eine Studentin, dass man sich das Schwarzsein durch die Diskriminierungserfahrungen verdienen würde. Ich kann auch diese Einstellung nachvollziehen. Vermutlich ist sie sogar der Hauptgrund, warum Rachel Dolezal so viel Unmut und Aggressionen auf sich zieht. Allerdings halte ich den Standpunkt für einen sehr amerikanischen. Überhaupt denke ich, dass Dolezals Geschichte in einem anderen Land anders verlaufen und aufgenommen worden wäre. Nicht jeder Schwarze dieser Welt lebt als Minderheit und wo er zur Mehrheit gehört, wird er für seine Hautfarbe seltener diskriminiert werden. Andererseits halte ich die Haltung der Studentin grundsätzlich für -Entschuldigung- Quatsch. Mann kann sich ein angeborenes Attribut nicht verdienen. Es ist da und man geht damit um. Je nach Umgebung wird das erschwert oder erleichtert, aber das Attribut kann nicht wie eine Auszeichnung errungen werden. Diskriminierung und Unterdrückung sind keine Währung mit der man sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erkaufen könnte. Mir scheint, dass viele Schwarze die Diskriminierungserfahrung (und das beweist den herrschenden Alltagsrassismus) als Teil ihrer Identität begreifen. Dass Rachel Dolezal dieselbe Identität beansprucht, ohne dasselbe erlebt zu haben, macht sie verständlicherweise wütend.

Dolezal wiederum hält „Rasse für ein Konstrukt“. Die eben erwähnte angenommene Verbindung von „Rassezugehörigkeit“ und Erfahrungen stützt diese Argumentation. Ebenso, dass „Rassezugehörigkeit“ je nach Kultur anders definitv wird. Auch wenn ich die Aussage teile, finde ich es schwierig, dass R. Dolezal damit alle Kritik abbügelt und sich inhaltlich gar nicht weiter auseinandersetzt. Immerhin nutzte sie ja mehr oder weniger bewusst das herrschende Konstrukt. Das zeigt vielleicht auch, dass ihre Gegner nicht Unrecht haben, wenn Sie behaupten, im Grunde setze sich Dolezal gar nicht mit Problemen und Lebenswirklichkeiten der schwarzen US-AmerikanerInnen auseinander.

Ist es wirklich so schlimm, dass sich jemand einer anderen Ethnie anschließen möchte? Hätten andere Konstellationen ähnliche Reaktionen hervorgerufen? Wenn sich z.B. eine Frau mit asiatischen Vorfahren als weiß ausgegeben hätte? Oder ein Mann sich als Frau? Letzteres kommt ja unserer Tage häufiger vor. Auch wenn es in der Realität sicher noch nicht überall rundweg akzeptiert wird, setzt sich, glaube ich, immer mehr die Überzeugung durch, dass manche Menschen in einem „falschen“ Körper leben. Es ist heutzutage möglich, das äußere Geschlecht dem Inneren anzugleichen. Ich schwinge mich nicht auf, das irgendwie zu beurteilen. Jeder muss machen, was er meint, tun zu müssen. Ich persönlich finde es gut, dass Menschen ihre Realität nach eigenen Wünschen formen können. Aber warum ist das Vorgehen beim Geschlecht okay,  nicht aber in Bezug auf die Hauptfarbe? Sollte nicht gleiches Recht für alle gelten? Wenn sich jemand innerlich als Schwarz empfindet, warum darf er/sie das nicht wie Dolezal in Kleidung, Haaren, Make-up und Interessen ausdrücken? Weil es, wie jemand im Film sagt, einem möglichen Stereotyp entsprechen könnte? Könnte das aber nicht auch auf manche/n Transsexuelle/n zutreffen, wenn sie die Möglichkeiten ihrer neuen oder vielmehr wahren Identität austesten? Ja, Dolezals Versuche, sich als schwarze Frau zu zeigen, muten mitunter skurril an, aber das heißt ja nicht, dass sie deshalb weniger ernstgemeint sind.

Andererseits frage ich mich, wo es hinführen würde, wenn jeder Mensch seine Identität völlig frei und ungeachtet angeborener Merkmale wählen könnte/würde? Wenn sich eine zwanzigjährige Chinesin zum Beispiel wie ein sechzigjähriger Russe fühlen würde? Oder ein Mann sich für eine Rose hielte? Was wird akzeptiert? Alles oder nichts? Manches und wenn ja, was und warum? Und müsste man in einer Welt, in der jeder das sein darf, was er möchte, nicht jede neue Bekanntschaft nach ihrer inneren Identität befragen? Als wen oder was der- oder diejenige gesehen und behandelt werden möchte? Oder soll man nur das werden dürfen, was man nach außen verkörpern kann? Also, wenn man z.B. das Geschlecht angleichen lassen oder entsprechende Kleidung tragen kann? Offensichtlich ist das nicht so, denn Dolezal verändert ja ihr Äußeres und am Schluss des Film sogar ihren Namen. Die schwarze Community wird sie aber dennoch nie als eine der ihren akzeptieren.

Rachel Dolezal wird im Film vorgeworfen, eine „Minstrel-Show“ aufzuführen. Allein dieser historische Vergleich zeigt, dass die Gründe für den Zorn auf sie viel weiterreichen als der auf eine simple Lüge. Mehr noch entzünden sich daran viele grundsätzliche Fragen und zeigen sich Haltungen nicht nur der US-amerikanischen sondern aller modernen Gesellschaften.

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6 Kommentare zu „[Netflix] Wir müssen reden über: Dokumentarfilm „Die Geschichte von Rachel Dolezal“ (The Rachel Divide)

  1. Sehr interessant. Das erinnert mich ein bisschen an das Buch „Der menschliche Makel“ von Philip Roth, auch wenn es dort umgekehrt ist und sich ein hellhäutiger Schwarzer für einen Weißen auszugeben versucht.

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  2. Danke für den Tipp! Ich schaue gerade auch die Doku und finde das ganze Thema sehr interessant. Ich verstehe nicht ganz, warum du schreibst, dass Rasse kein Konstrukt ist. Natürlich ist Rasse ein Konstrukt, was soll es sonst sein? Aber wahrscheinlich hängt das vom generellen Zugang zur Welt ab, wie man es beschreibt. Danke dir jedenfalls nochmals für den Filmhinweis.

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    1. Gern geschehen.
      Siehst du, ich habe mich missverständlich ausgedrückt, wie ich schon befürchtete. Ich habe nicht gesagt, dass Rasse kein Konstrukt ist. Ich halte sie auch dafür, glaube nicht an eine „Rasse“ aus der des Menschseins. Was ich meinte war, dass man die Einwände von Dolezals Kritikern nicht einfach damit abtun kann, dass man sagt: Hey, stellt Euch nicht so an, das ist eh nur ein Konstrukt, das Ihr da so vehement verteidigt.“
      Das Thema ist sehr vielschichtig und lässt sich von sehr vielen Ebenen und Perspektiven aus betrachten. Habe die Stelle noch mal „justiert“:) .Danke für den Hinweis.

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