Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich ein bisschen ausholen.
Ich bin Musical-Fan. Allerdings keiner, der MusicaldarstellerInnen beim Vornamen kennt oder von Ort zu Ort tingelt, um möglichst viele Musicalaufführungen abhaken zu können. Stattdessen habe ich vielen Musicals gegenüber sogar Vorbehalte.
Obwohl ich Der König der Löwen durchaus mochte, gehört es nicht zu meinen favorisierten Vertretern. Allen übrigen Disney-Produktionen bringe ich noch sogar eine gehörige Portion Skepsis entgegen, schon allein, weil mich die zugrundeliegenden Filme kaltlassen. Auch all die Musicals, die Mamma Mia! nachfolgten und das Repertoire verschiedener Künstler von Udo Jürgens bis Wolfgang Petry verhackstückeln, interessieren mich nicht. Gleiches gilt für Genrevertreter, die Filme wie Bodyguard, Ghost oder Dirty Dancing adaptieren. Die berühmten Werke von Andrew Lloyd Webber habe ich alle schon in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern in solch ausreichendem Maße gehört, dass es für die nächsten Dekaden ausreicht. Damals fand ich sie toll, heute können sie mich nicht mehr begeistern. Tja, bleibt nicht viel übrig, möchte man meinen. Ist auch irgendwie so, besonders wenn man in Deutschland lebt, wo viele neue Musicals erst Jahre später, wenn überhaupt, ihren Weg auf eine Bühne finden. Mal nebenbei gesagt, würde ich es wirklich fantastisch finden, wenn es in Berlin, Hamburg oder wo auch immer, eine Bühne gäbe, die englische Originalversionen als Gastspiele präsentieren würde. Aber das ist natürlich ein unrealistischer Wunschtraum.
Zurück zum Thema 🙂 und zum Punkt.
Les Misérables gehört zu einem der wenigen Musicals, die mich interessieren, faszinieren und mitreißen. Wie es dazu kam?
Bevor die Adaption von Victor Hugos Die Elenden mit Hugh Jackman verfilmt wurde, dachte ich, es wäre ein Musical von Andrew Lloyd Weber. Daran habe ich ja wie gesagt kein großes Interesse mehr. Allerdings verschlug es mich dann doch ins Kino und ich war total begeistert. Besonders die Musik hatte es mir angetan und ich hörte sie über Monate hinweg in Dauerschleife und ja, ich habe auch gesungen 😉 .
Die Geschichte ist berührend, aber die musikalische Umsetzung ist gewaltig! Auch in ihrer emotionalen Wirkung. Natürlich wollte ich das Musical seitdem unbedingt live erleben, aber es ergab sich leider nie, zumal es in Deutschland auch seit vielen Jahren nicht mehr aufgeführt wurde. Im Gegensatz zu London, wo es wohl seit 33 Jahren im West End auf dem Spielplan steht. Als ich letztes Jahr las, dass die Freilichtspiele Tecklenburg sich Les Misérables annehmen würde, musste ich natürlich unbedingt dabei sein. Zum Geburtstag schenkte mir meine Mutter dann Karten, so dass wir beide uns am 8. Juli auf den Weg nach Tecklenburg machten.
Tecklenburg ist ein sehr hübscher Kurort, trotzdem war es mein erster Besuch dort und somit auch in der Freilichtbühne, die mit 2300 Sitzplätzen übrigens die größte Bühne ihrer Art in Deutschland ist. Das weiß ich aber erst, nachdem ich mich im Zuge des Besuchs etwas informiert habe. Zuvor hatte ich zugegebenermaßen Vorurteile gegenüber Freilufttheatern. Ich hielt sie für laienhaft und provinziell. Aber das hat sich wirklich grundlegend geändert! Die Freilichtbühne Tecklenburg steht hinter keiner anderen Theaterform zurück, ist professionell und hochwertig.
Doch zurück zum Samstag.
Schon als wir in die Stadt kamen, tauchten am Straßenrand zunehmend Menschen mit großen Taschen auf. Wir hatten ebenfalls Sitzkissen dabei, aber unsere Ausstattung kann wirklich nur als „rudimentär“ im Vergleich zu den eingefleischten Besuchern bezeichnet werden. Diese hatten gleich Liegenbezüge mit, so dass sowohl Hinterteil als auch Rücken weichgepolstert war. Zudem trugen sie Picknickkörbe oder Tiefkühltaschen mit sich, deren Inhalt wir in der Pause erfahren sollten. Er reichte von Sekt über geschmierte Brote, Gemüsespieße und Chips bis hin zu Energiedrinks. Da müssen wir das nächste Mal wirklich noch gehörig aufstocken! In jedem Fall ist es sehr sympathisch, dass das Mitbringen eigener Verpflegung erlaubt ist.
Der Parkplatz war leicht gefunden und der Preis mit 3€ sehr moderat veranschlagt. Dann brauchten wir uns nur noch in den Tross Musicalbegeisterter einzureihen. Der führte uns zuerst in die Altstadt von Tecklenburg, die sich mit „pittoresk“ wahrlich in einem Wort beschreiben lässt. Kleine Fachwerkhäuser, die sich um einen Kern scharen, beherbergen niedliche Geschäfte, Restaurants, eine Eisdiele, ein Otto-Modersohn-Museum etc. Weiter steigt man den Berg hinauf, an den sich weitere Häuschen schmiegen und von dem man einen herrlich weiten Blick über die hügelige Umgebung (und ein Kraftwerk 😉 ) genießen kann. Ich fühlte mich wie in eine andere Zeit oder einen Ort irgendwo am Rhein versetzt. Allein dieser Aufstieg zur Burgruine, in der das Theater untergebracht ist (wer kam bloß auf diese geniale Idee?!), stellt für mich einen wichtigen Bestandteil des Gesamterlebnisses „Freilichtbühne Tecklenburg“ dar.
Schließlich durchquerten wir einen Obstgarten und schon standen wir vor den Pforten des Theaters. Die Plätze waren ebenso einfach und schnell gefunden, da alles sehr überschaubar gestaltet ist. Eine Überdachung sorgt für Schutz vor Sonnenschein oder Regen, nur die seitlichen Plätze müssen ohne auskommen. An einem so sonnigen und warmen Tag wie unserem Besuchstag stellt das natürlich überhaupt keinen Nachteil dar. Die Holzsitzbänke sind alles andere als bequem, aber die mitgebrachten Polsterungen schaffen Abhilfe. Leider besetzt ein recht großer Mann den Platz vor mir, so dass ich während der Vorstellung immer wieder den richtigen Winkel an seinem rechten bzw. linken Ohr suchen musste, um das Geschehen auf der Bühne verfolgen zu können. Letztlich klappte das aber ganz gut, nur beim Schlussapplaus bzw. den Standing Ovations sah ich überhaupt nicht, wem ich Tribut zollte. Naja egal, alle hatten ihn verdient und er dauerte entsprechend lange an. Doch ich greife vor.
Die Bühne ist sehr breit und wird von den Überbleibseln der Burg gesäumt. Davor befindet sich der Orchestergraben und daran anschließend natürlich die Zuschauerränge. Das Bühnenbild besteht aus einer Häuserzeile mit verschiedenen Toren, Schlupfwinkeln und Aufgängen. Auch seitlich können die Darsteller zahlreiche Wege für ihre Auftritte und Abgänge nutzen. Erstaunlich, wie viele Arten es gibt, jemand auf- bzw. abtreten zu lassen. Auf der linken Seite gab es außerdem eine Drehbühne, die mal zur Abtei mal zum Treffpunkt der Studenten umfunktioniert wurde. Bewegliche Elemente wurden benutzt, um weitere Räumlichkeiten entstehen zu lassen wie z.B. die Fabrik, Fantines Krankenzimmer etc. Alles in allem gefiel mir das Bühnenbild sehr gut und wie die Burgreste integriert wurden, faszinierte mich.
Da die Vorführung am Sonntag um neunzehn Uhr begann, fand der erste Teil noch bei Tageslicht statt. Für mich passte es hervorragend zum Verlauf der Handlung, dass der Aufstand und die dramatischen Szenen um Valjeune und Javert bei zunehmender Dämmerung und schließlich künstlicher Beleuchtung stattfanden. Im zweiten Abschnitt wird auch öfter die Nebelmaschine angeschmissen, was den dramatischen Effekt noch verstärkt.
Aber bevor wir diesen Teil erreichen, sollten wir den Anfang nicht außer Acht lassen. In der ersten Szene stehen mehrere Drahtkörbe am Rand der Bühne. Die Musik setzt ein, aus einem tieferliegenden Ausgang kommen Männer in Lumpen, die schwere Steine tragen und in die Körbe werfen. Es besteht keine Frage, hier handelt es sich um ein Gefängnis und die Männer leisten Schwerstarbeit. Ich wiederum habe mich gefragt, warum die Körbe nummeriert sind. 😉 Egal, irgendwer wird sich schon irgendwas dabei gedacht haben. Dann griff Jean Valjean ins Geschehen ein. Stimmlich als auch darstellerisch gefiel mir Patrick Stanke in dieser Rolle sehr gut. Er weiß in jedem Entwicklungsstadium seiner Figur zu überzeugen. Sei es als zorniger Häftling, gerechter Bürgermeister oder liebevoller Vater. Das Paar Cosette (Daniela Braun) und Marius (Florian Peters) harmoniert in allen Bereichen. Von Javert bzw. Kevin Tarte hätte ich mir bei allem gesanglichen Vermögen jedoch noch mehr Verbissenheit und Gefühlskälte gewünscht. Dann wäre sein Selbstmord noch nachvollziehbarer gewesen. Insgesamt sind trotzdem alle DarstellerInnen passend ausgewählt und stimmlich überzeugend gewesen. Das gilt natürlich auch für die Nebenrollen, doch besonders möchte ich Florian Soyka als Bischof von Digne und Courfeyrac lobend erwähnen. Seine Stimmfarbe klang in meinen Ohren warm und wunderbar.
Ich denke, dass Les Misérables ein durchaus forderndes Musical ist, dessen Stücke Könnerschaft einfordern. Diese bewiesen nicht nur das Gesangsensemble, sondern auch das Orchester. Akkustisch vermittelt sich das ebenfalls und auch die Liedtexte kann man gut verstehen.
Ein Faible hege ich generell für die Rolle des Enjolras und sorgte auch in dieser Inszenierung für mein persönliches Highlight, als er als letzter Überlebender auf den Barrikaden die rote Fahne schwenkt. Zugegebenermaßen hatte ich eine Träne im Augenwinkel. Aber das ist nicht das einzige Glanzlicht der Inszenierung! Diese hält sich, wie ich vermute, stark an die Vorgaben des Lizenzgebers, aber ich mag das! Ich möchte Stücke durchaus so sehen, wie sie konzipiert wurden und halte von allzu großer künstlerischer Freiheit nicht so viel seit ich einmal den Faust in Blaumann und mit Playboyheft erleben „durfte“. Nichtsdestotrotz gibt es in der Tecklenburger Aufführung neue Choreografien wie z.B. die Tanzeinlage im Gasthaus der Eheleute Thénardier. Mich haben sie überzeugt und das nicht nur, weil sie ein beeindruckend großes Ensemble auf der Bühne vereinen. Das Wirtspaar stellt wohl einen Publikumsliebling dar, was allerdings nicht auf mich zutrifft. Klar, sie sind für die Komik zuständig und dass das Stück nicht in Tristesse versinkt, aber meine Favoriten sind andere. Ein weiteres der vielen Highlights stellte Javerts Selbstmord dar. Er wurde sehr stimmungs- und effektvoll in Szene gesetzt.
Die Lichtregie war vergleichsweise zurückhaltend, was ich aber als sehr passend für die Örtlichkeit unter freiem Himmel empfand. Ohnehin sind die Geschichte und die Lieder ja schon dramatisch genug. In einer Szene wurden die Bäume hinter dem Bühnenbild angestrahlt und das war im Grunde nur eine Randerscheinung, doch solche Details tragen für mich persönlich enorm zur Atmosphäre bei.
Les Misérables ist voller Dramatik, toller Momente und Lieder. Schon die ersten Töne verursachten mir eine Gänsehaut und das taten auch viele andere Lieder. Die Kostüme trafen die Epoche, in der das Stück angesiedelt ist. Wie die örtlichen Gegebenheiten in die Kulissen integriert wurden und so ein harmonisches Ganzes geschaffen wurden, machte großen Eindruck auf mich. Mein unbekannter Sitznachbar ließ sich während der gesamten Aufführung kein einziges Mal zu einem Applaus hinreißen, was ich doch sehr befremdlich fand. Kulturbanause ;). Insgesamt hat mich die Aufführung der Freilichtspiele Tecklenburg in allen Bereich überzeugen können. Wir sind definitiv zu Fans mutiert! Dass man den Saal über die Bühne verlässt, war für mich zudem noch ein riesiges Hightlight. Noch einmal dicht an den Kulissen vorbeigehen zu können, die Bretter, die die Welt bedeuten, betreten zu dürfen – WOW! Als wir aus dem Theater kamen, dämmerte es noch. Ein rötlicher Schein glomm über den Hügeln, in der Ferne funkelten Lichter, im Pilgerzug ging es zurück zum Auto. Es war wirklich zauberhaft. Was für ein Erlebnis!
Ich kann allen Musicalbegeisterten einen Besuch bei den Freilichtspielen Tecklenburg nur empfehlen. Es gibt auf jeden Fall noch Karten und sogar aufgrund der großen Nachfrage Zusatztermine. Außer Les Misérables stehen dieses Jahr darüber hinaus Peter Pan und Monty Python’s Spamalot auf dem Spielplan.
Impressionen der Inszenierung findet Ihr außerdem Hier und HIER.
Eine Kritik samt kurzem Radiobericht gibt es von WDR4.
Ach schön! Für mich war vor einigen Jahren „Les Miserables“ in London auch ein absolutes Highlight. Und Enjolras ist auch mein Babe! ❤
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Es mal in London zu erleben, ist auch ein großer Wunsch von mir! Enjolras rocks 😀 !
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Les Miserables ist eines der wenigen Musicals, die ich richtig gut finde. Starlight Express, das ich in den 90ern mal gesehen habe, gehört auch dazu. Und mein erstes Musical überhaupt, das ich bis heute unerreicht finde, ist CHESS in der Originalversion. Geschrieben von Benny Andersson und Björn Ulvaeus. Ich habe es in den 8oern in London gesehen und war ganz speziell vom Bühnenbild mit riesigen Schachfiguren in der Eröffnungs-Sequenz hin und weg.
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An Chess erinnere ich mich auch sehr gut. Nicht, weil ich das Musical tatsächlich gesehen hätte, sondern weil One Night in Bangkok damals in den Charts rauf- und runterlief.
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Das Lied fand ich damals wirklich gut, und deswegen auch so gespannt auf die Live-Aufführung, die hat dann alles getoppt.
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Live ist ja alles nochmal eine ganz andere Nummer. Kann ich mir gut vorstellen, dass das Musical beeindruckend war.
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und wie!
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