[Rezension] Blick auf eine untergegangene Welt

Vor Mitternacht

Die dreizehnjährige Gittel lebt mit ihren Eltern in den Niederlanden der Zwanzigerjahre. Immer wenn die Eltern sich streiten, muss die Tochter ihre Koffer packen und mit ihrer Mutter nach Antwerpen ziehen. Gittels Großmutter herrscht dort über eine große Familienschar. Hier gilt es, strenge Regeln zu befolgen und sich mit der nervigen Verwandtschaft herumzuschlagen. Als Bankierstochter Lucie Gittel anbietet, auf dem Flügel der Mardells zu üben, ist das junge Mädchen froh, ihrer engen Welt für ein paar Stunden zu entkommen. Lucie ist fast dreißig und skandalöser Weise noch unverheiratet. Gittel himmelt ihre neue Freundin an und ahnt nicht, dass die ganz eigene Interessen verfolgt.

Dies ist einer der Fälle, in denen der Klappentext falsche Erwartungen schürt. Wer hier nämlich irgendeinen raffinierten Plot mit Wendungen erahnt, der liegt nicht nur falsch, sondern ist vielleicht später sogar enttäuscht. Damit würde Ida Simons einzigem literarischen Werk jedoch Unrecht getan, denn das dünne Buch hat wirklich viel zu bieten. Allerdings trägt die Autorin einen gewissen Anteil an der Irreführung, denn manche Textstelle deutet mehr an, als Lucies Geschichte hergibt.

Ich-Erzählerin Gittel zieht die Leser sofort in ihr Leben hinein. Sie berichtet von ihren Eltern, den Großeltern, Tanten und Onkeln, Freunden der Familie und Nachbarn. Es geht um das alltägliche Zusammensein, die Eigenheiten der unterschiedlichen Persönlichkeiten und die Besonderheiten ihrer Beziehungen. Die Leser können hier das pralle jüdische (Familien-)Leben der Zwischenkriegszeit erleben, in das sich später auch die Mardells einfügen, aber keine Hauptrolle einnehmen. Gleichzeitig geht es darum, dass Gittels überschaubare Welt sich zusehends verändert. Einerseits lernt sie Lucie kennen. Sie wird erwachsen und sieht mehr und mehr über ihren Tellerrand hinaus. Andererseits zieht die Familie von den Niederlanden nach Deutschland.

In der Beobachtung der Menschen und ihrem Umgang miteinander liegt also eine der Stärken des Romans. Simons Sprachstil ist so lebendig und einnehmend, dass die Geschichte und ihre Figuren absolut glaubwürdig und real wirken.

Eine weitere Stärke ist Gittels Stimme selbst, die ihre Umgebung immer treffend und vor allem mit einem humorvollen Zwinkern unter die Lupe nimmt. Es gibt unzählige Stellen, die angestrichen und gemerkt gehören. Die zum Schmunzeln, Lachen und Nachdenken anregen.
Obwohl die Geschichte in der Rückschau berichtet wird, entsteht der Eindruck es spreche tatsächlich eine Dreizehnjährige. Nur selten scheint ein älteres Ich durch, wenn z.B. die „Gaskammer-Generation“ erwähnt wird.

Da der Titel Vor Mitternacht keinen Bezug zum Inhalt hat, spielt er möglicherweise auf den Holocaust an. Genauso wie um Mitternacht ein Tag zu Ende geht, endete mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus die gewohnte Welt der europäischen Juden. Und genau das schwingt auch beim Lesen des heiteren Romans immer mit. Man fragt sich, was wohl mit Gittel und ihrem großen Familien- und Bekanntenkreis während der Zeit des Nationalsozialismus geschehen wäre.

Ida Simons einziger Roman Vor Mitternacht ist sehr unterhaltsam, bietet aber gleichzeitig viel Raum für eigene Gedanken. Sei es, dass sie diese direkt oder zwischen den Zeilen anschiebt. Sein Alter merkt man dem Werk, das 1959 zum ersten Mal verlegt worden ist, überhaupt nicht an. All das macht es in der Summe zu einem Kleinod, das trotz geringen Umfangs sehr viel zu bieten hat.

4Writer

Ida Simons, Vor Mitternacht, Luchterhand-Literaturverlag 2016.

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