Bevor Peter Wyden und seine Eltern in die USA emigrieren und sich so vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten retten konnten, besuchte er in Berlin die Goldschmidt-Schule. Sie war jüdischen Schülern vorbehalten, denn nach dem 15. November 1935 war es ihnen untersagt, öffentliche Schulen zu besuchen. Dort fiel ihm besonders ein blondes Mädchen auf – Stella Goldschlag. Niemand schien sich ihrer Ausstrahlung entziehen zu können. Im Chor stand er neben ihr und versuchte auch sonst, ihr nahe zu sein, doch seine Schüchternheit machte ihm immer einen Strich durch die Rechnung.
Nach dem Krieg kehrt Wyden als Soldat nach Deutschland zurück und erfährt, dass Stella vor Gericht steht. Schockiert muss er feststellen, dass der Schwarm seiner Jugend das Schicksal vieler jüdischer Leidensgenossen beeinflusst hat und zwar in tödlicher Weise. Denn Stella war eine Greiferin, die untergetauchte Menschen an die Gestapo verriet und damit in den sicheren Tod schickte. Anfangs tat sie es, in der Hoffnung ihre Eltern vor der Deportation verschonen zu können. Als sie das nicht mehr verhindern konnte, setzte sie ihre Tätigkeit trotzdem fort. Warum ist die junge Frau diesen Weg gegangen? Aus Angst um ihr eigenes Leben? Aus Antisemitismus? Wollte sie auf der Seite der Sieger und nicht der Opfer stehen? Hätte sie anders handeln können? Kann der Wille zu überleben, amoralisches Verhalten rechtfertigen? All diese Fragen lassen Peter Wyden nicht los und er versucht, Antworten zu finden.
Mit „Stella“ ist Peter Wyden eine überaus spannende Lebensbeschreibung gelungen. Stella Goldschlags Lebensweg wird zum Ausgangspunkt, um die Mechanismen, Vorgänge und Geschehnisse in den Jahren 1933 bis 1945 zu verfolgen. Es wird ein großer Bogen geschlagen und fast schon eine Überblicksdarstellung jüdischen Lebens jener Zeit geboten. Die politischen Entscheidungen im In- und Ausland, die über ihr Leben und ihren Tod entschieden, werden ebenso behandelt wie die Vorgänge in Theresienstadt und Auschwitz.
Es ließe sich leicht annehmen, dass Leser gelangweilt oder genervt sein könnten, wenn Stella immer wieder aus dem Blick fällt und über andere Dinge berichtet wird. Das ist jedoch niemals der Fall. Denn jeder Aspekt, den der Autor anführt, hat seine Auswirkungen auf das Leben der jüdischen Menschen in Deutschland und damit auf Stella. Jede Erfahrung seiner Freunde und Schulkameraden, die auch Stellas waren, bietet einen Einblick in die Schwierigkeiten und Bedrohungen jener Zeit. Gleichzeitig zeigen sie alternative Lebenswege auf. Wege, die auch Stella hätte gehen können, wenn sie andere Abzweigungen gewählt hätte oder hätte nehmen dürfen. Darüber hinaus weiß der Sprachstil absolut zu überzeugen und zu fesseln. Er erinnert an einen Roman statt an ein Sachbuch. Der Schreibstil verbunden mit dem Wissen um den Realitätsgehalt des Textes schafft es, nicht nur zu informieren sondern auch tief zu berühren.
Peter Wyden dämonisiert Stella Goldschlag und ihre Taten nicht, sondern versucht ihren Motiven und Gefühlen auf den Grund zu gehen. Er sammelt Argumente für und gegen sie, führt aber niemals Anklage gegen sie. Stattdessen zeichnet er das überzeugende Portrait einer Frau, die in ihrer Ambivalenz irritiert und fasziniert, und ein differenziertes, kenntnisreiches Bild einer barbarischen Zeit. Schlussendlich bleibt die Frage, ob Stella wirklich eine Wahl hatte. Eine Frage, die wohl niemals beantwortet werden kann.
5/5 Schreibmaschinen
Peter Wyden, Stella, Steidl 2002.