1963 hofft Eva Bruhns, dass Unternehmersohn Jürgen endlich um ihre Hand anhält. Auch ihre Eltern, die Wirtsleute des gutbürgerlichen Gasthofs „Deutsches Haus“, freuen sich über die gute Partie ihrer Tochter. Da erhält Eva das Angebot, bei einem großen Prozess in Frankfurt als Übersetzerin mitzuwirken. Obwohl weder ihre Eltern noch Jürgen begeistert sind, nimmt sie an. Fortan übersetzt die junge Frau die Aussagen polnisch sprechender Zeugen in einem der größten und wichtigsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Welche Bedeutung ihm zuteil wird, ahnt Eva noch nicht, die von dem Ort Auschwitz zuvor noch nie etwas gehört hat.
Der Titel „Deutsches Haus“ ist sehr gut gewählt, da das Gasthaus, seine Bewohner und die Begebenheiten, die darum kreisen, sinnbildlich für die BRD stehen. Das adrette Äußere beherbergt auf den ersten Blick eine glückliche Familie, die den piefigen Alltag der Sechzigerjahre zu meistern versteht. Doch unter der Oberfläche gären verschüttete und verdrängte Erinnerungen an die NS-Vergangenheit, bis die zweite Generation anfängt, hinter die Fassade zu blicken.
Annette Hess verpackt ihre Geschichte in eine gefällige und für die Sechzigerjahre sehr zeitgemäße Sprache. Die wirken anheimelnd, gleichzeitig aber auch sehr spießig und beengt. Die Erwartungen, die ihre Eltern und Jürgen an Eva stellen, verdeutlichen darüber hinaus allzu gut, wie eng das weibliche Rollenbild gesteckt war. Eva vertritt dieses Rollenverständnis zwar selbst, bricht aber durch ihre Teilnahme am Prozess daraus aus. So handelt der Roman auch von Evas Emanzipation, die auf mehreren Ebenen stattfindet.
Gleichzeitig schafft es die Autorin der (davon darf heute ausgegangen werden) aufgeklärten Leserschaft zu vermitteln, wie wenig Evas Generation in den Sechzigerjahren über NS-Verbrechen wusste und welch fundamentale Wirkung die Enthüllungen auf viele haben musste.
Der Prozess selbst wird weniger eingehend behandelt, als man vielleicht annehmen würde. Allerdings kann es gar nicht Aufgabe eines Romans sein, einen Gesamtüberblick über das historische Ereignis zu liefern. Daher wäre es toll, wenn manche/r Leser/in inspiriert würden, sich weiter mit dem Thema zu befassen.
Der Prozess ist angemessen in die Handlung eingebettet. Es wird klar, worum es geht, wie sich die Angeklagten verhalten und sich zu den Vorwürfen positionieren und welche Wirkung das alles auf die Zeugen hat. Die Sprache ist immer treffend, vermittelt Emotionen, ohne auf die Tränendrüse zu drücken, und Fakten, ohne trocken oder gar langweilig zu sein. Die Diskrepanz zwischen einem nüchternen Gerichtsverfahren und den monströsen Erfahrungen der Zeugen ist besonders bedrückend und rührt stellenweise sogar zu Tränen.
Der Wechsel zwischen Evas Familienangelegenheiten und der Gerichtsverhandlung und wie beides ineinandergreift, baut zudem eine subtile und starke Spannung auf.
Dass Hess sich als Drehbuchautorin z.B. für den erfolgreichen Mehrteiler Kurfürstendamm 56/59 verantwortlich zeichnet, schlägt sich in ihrem Vermögen, die Sechzigerjahre glaubwürdig auferstehen zu lassen genauso nieder wie in dem sehr strukturierten Handlungsaufbau.
Zwar wäre es wünschenswert gewesen, wenn manche Aspekte mehr Raum erhalten hätten. Ein paar Dinge bleiben außerdem offen, was sicher so beabsichtigt ist, aber von der Leserschaft trotzdem als schade empfunden werden kann. Insgesamt wirken sich diese Punkte aber nicht wirklich negativ aus, denn die Handlung und Figuren sind immer glaubwürdig. Nur ein kleiner Handlungsstrang, der sich um ein rotes Päckchen mit Myrre dreht, ist etwas weit hergeholt.
Es fällt leicht, der Handlung zu folgen. Dabei wechselt die Perspektive von der Protagonistin immer wieder zu anderen Beteiligten. Ihrer Schwester Annegret, die als Krankenschwester auf einer Kinderstation tätig ist und sich in Affären stürzt. David, dem Sohn jüdischer Auswanderer, der als Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft tätig ist. Evas Eltern und Jürgen. Zwar lässt sich gerade bei Annegret die Frage stellen, wie relevant sie für den Roman insgesamt ist, aber letztlich können hier ebenfalls Nachwirkungen verdrängter Erlebnisse festgemacht werden.
Hess‘ Feingefühl für ihre Figuren und die Fähigkeit, deren Motive und Emotionen plausibel und packend in Worte zu fassen, ist bemerkenswert. Auch die Vielzahl der Perspektiven ist beachtlich. Opfer, Täter, Mitläufer, ihre Kinder und die, die sich retten konnten, erhalten eine Stimme. Dass Schuldgefühle selten auf Seiten der Täter, sondern irrationaler und erschreckender Weise bei den Opfern zu finden ist, wird eindrucksvoll gezeigt.
Es wäre toll, wenn Annette Hess sich weiteren Themen der jüngeren Geschichte auf so packende und differenzierte Weise widmen würde.
Alle Bestandteile zusammen entwickeln einen Sog, der dafür sorgt, dass man Deutsches Haus immer weiter hören möchte und es auch tut. Schade nur, dass es sich lediglich um eine gekürzte Version des Buches handelt. An dieser Stelle muss unbedingt die exzellente und fesselnde Leistung von Eva Meckbach herausgestellt werden. Hess‘ Sprachstil und Meckbachs Vortrag gehen eine perfekte Liaison ein, so dass wirklich ein Film vor dem inneren Auge der Hörer abläuft.
Das Hörbuch „Deutsches Haus“ erhält vier Schreibmaschinen plus eine für das Hörerlebnis.
5/5 Schreibmaschinen