[Rezension] Auf der Jagd nach einem Blutsauger. Dem Blutsauger!

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Dracula lebt!

Das behauptet zumindest sein Doktorvater, als Historiker Paul mit Rossi über ein mittelalterliches Buches spricht, dessen Inhalt allein aus dem Holzschnitt eines Drachen besteht. Er erfährt, dass auch sein Mentor ein solches Exemplar auf ungewöhnliche Weise erhalten hat. Unmittelbar nach ihrem Gespräch verschwindet Rossi plötzlich genauso spurlos wie rätselhaft. Paul ist alarmiert und macht sich mit seiner Zufallsbekanntschaft Helen auf die Suche nach ihm und damit nach Dracula, denn er glaubt Rossi und hält den Untoten für den Drahtzieher der Entführung. Die Jagd führt das ungleiche Paar in die Türkei, nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien.
Viele Jahre später lebt Paul mit seiner Tochter Eva in Amsterdam und reist als Diplomat durch die Welt. Eines Tages findet Eva in der Bibliothek ihres Vaters ein seltsames Buch und darin das furchteinflößende Bild eines Drachens.

Der Historiker einen dicken Wälzer zu nennen, ist keine Übertreibung. Man könnte damit wohl Dracula erschlagen, wenn es nicht etwas mehr als pures Gewicht bräuchte, ihn zur Strecke zu bringen. Auch inhaltlich hat der Roman einiges zu bieten.

Alles fängt mit Eva als Erzählerin an. Später wechselt sie sich mit Paul ab, der in Briefen von seiner gefährlichen Suche berichtet. Auch Helene darf später in Briefen ihre Sicht darlegen. Durch diesen Kniff springt die Handlung abwechslungsreich zwischen den Jahrzehnten hin und her.
Das Dracula kaum persönlich in Erscheinung tritt, ist ein weiterer Kunstgriff. Erstaunlicherweise funktioniert das sehr gut. Er ist Jäger und Gejagter zur gleichen Zeit, ist eine ständig Bedrohung und so gleichsam gefürchtetes wie ersehntes Ziel der Suche. Die führt nicht nur in die Ostblockländer der Siebzigerjahre, in Bibliotheken, Archive und Klöster, sondern auch zurück in die Geschichte des Mittelalters. Es ist absolut faszinierend, wie die Autorin Fakten und Fiktion auf spannende Weise miteinander verknüpft. Historische Forschung ist immer auch Detektivarbeit. Hinweise und Spuren werden gesucht, verfolgt, Thesen be- oder widerlegt, Sackgassen überwunden werden. Diesen Aspekt macht Kostova wunderbar deutlich und lässt daraus eine wendungsreiche Schnitzeljagd entstehen. Die Atmosphäre ist durchgehend düster und unheilschwanger, was die Spannung unterstützt.
Wer allerdings weder dafür noch für mittelalterliche bzw. osteuropäische Geschichte ein Interesse mitbringt, wird es wohl schwer haben. Dem könnte der Roman zu weitschweifig, zu detailliert erscheinen. Allerdings weist die Handlung jederzeit ein gewisses Tempo auf und gerade wenn wissenschaftliche Erklärungen Oberhand zu gewinnen scheinen, entfacht ein Cliffhanger die Spannung neu. In Anbetracht der offensichtlichen Liebe, Sorgfalt und des Kenntnisreichtums, die jederzeit zu bemerken sind, lassen sich manch unglaubliche Zufälle hinnehmen. Die Sprache hat eine schöne Melodie, ist leicht verständlich, aber nicht simpel und trägt angenehm durch die Erzählung.

Obwohl das Ende ab ca. Seite 700 allein aufgrund dessen, was bereits alles hinter den Lesern liegt herbeigesehnt werden kann, ist Der Historiker im besten Sinne ein Schmöker. Er zieht die geneigten Leser in eine spannende und interessante Erzählung, die sich auf vielen Ebenen entfaltet. Geschichte, Politik, Kunst, aber auch menschliche Emotionen, Beziehungen und schließlich der große Mythos Dracula als historische Figur oder Gespinst des Aberglaubens werden verwoben. Eine ganz bemerkenswerte literarische Leistung. Selbst LeserInnen, die mit Vampirgeschichten sonst nichts anfangen können, können einen tollen Roman entdecken.

4/5 Schreibmaschinen

4Writer

Elisabeth Kostova, Der Historiker, Berliner Taschenbuch Verlag 2006.

2 Kommentare zu „[Rezension] Auf der Jagd nach einem Blutsauger. Dem Blutsauger!

  1. Ein wirklich ganz wunderbares Buch, dessen Lektüre für mich schon viel zu weit zurückliegt. Ich würde es ja nochmal lesen, aber da ist ja dieser wirklich beträchtliche Umfang, denn mit dem Wälzer könnte man tatsächlich jemanden erschlagen. 🙂

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