In Ihrem Buch „Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen was gut und böse ist“ setzt sich Judith Sevinç Basad mit dem sehr aktuellen Thema der Identitätspolitik und ihren Vertretern auseinander. In den Blick nimmt sie vermeintlich linke Aktivisten, die sich selbst als „woke“ (also aufgeweckt/aufgewacht) oder auch „Social Justice Warriors“ bezeichnen. Die englischen Begriffe deuten bereits an, dass das „Phänomen“ seinen Ursprung in den USA hat, inzwischen aber auch immer stärker in Deutschland zutage tritt.
Was wird überhaupt unter „Identitätspolitik“ verstanden? Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen sich aufgrund ihrer Hautfarbe, des Geschlechts, sexueller Orientierung etc. einer bestimmten Gruppe zuordnen lassen bzw. eine gemeinsame Identität teilen. Angeblich ist die Gruppe durch dieselben Bedürfnisse und Ziele geeint und ist deshalb vermeintlich homogen. Außer acht gelassen wird dabei, dass Identitäten vielfältig sein können (Nationalität, sozialer Status, Beruf, Sprache, Alter…) und ein Mensch niemals nur eine besitzt. Auf Bedeutungonline.de heißt es weiter: „Ohne die Idee unterdrückt oder benachteiligt zu sein, funktioniert Identitätspolitik nicht.“ Ziel ist es also gegen diese Unterdrückung und Benachteiligung vorzugehen, die gesellschaftliche Situation der Gruppe zu verbessern, stärkere Anerkennung und Einfluss zu finden.
Judith Sevinç Basad stellt klar, dass es selbstverständlich soziale und gesellschaftliche Ungleichbehandlung, Ungerechtigkeiten und Missstände gegenüber verschiedenen Gruppen gibt. Ebenso wenig negiert sie die Notwendigkeit dagegen vorzugehen und sie aufzulösen. Jedoch bezweifelt die Autorin, dass „Social Justice Warriors“ tatsächlich an einer praktischen Lösung interessiert sind. Vielmehr will die Bewegung angeblich die Deutungshoheit über bestimmte Themen gewinnen und Feindbilder forcieren. Dass sie Machtverhältnisse lieber umkehren statt auflösen möchte. Anhand der Themenfelder „Gender“, „People of Colour“ und „Migranten“ und vieler Beispiele wird der These nachgegangen.
Ebenso werden „woke“ Theorien und Überzeugungen erklärt und kritisch hinterfragt. Lassen sich gesellschaftliche Veränderungen tatsächlich durch Sprache fördern oder sogar bewirken? Was hat es mit der „Cancel Culture“ auf sich? Ist „kulturelle Aneignung“ rundweg abzulehnen? Wie steht es um den„strukturellen Rassismus“, der unserer Gesellschaft zu eigen sein soll? Ist es angebracht, den „alten weißen heterosexuellen Mann“ zur Wurzel allen Übels zu erklären und auf sein baldiges Ableben zu hoffen? Wie versuchen „Social Justice Warriors“, Rassismus zu bekämpfen? Dies sind nur einige der Fragen mit denen sich die Autorin auseinandersetzt. Auch die Rolle der Medien beleuchtet Basad, wirft ihnen beispielsweise vor, Denkmuster der Identitätspolitik zu übernehmen, zu fördern und so in die Gesellschaft zu tragen.
Wie der Buchtitel ja schon nahelegt, sieht Basad die Bewegung und ihren Einfluss auf die Gesellschaft sehr kritisch. Einerseits wirken ihre Vorwürfe und Schlussfolgerungen teilweise übertrieben oder gar (zu) radikal. Andererseits sind auch viele der „woken“ Thesen wirklich haarsträubend und erschreckend. So finden sich mitunter Denkmuster, die gegenüber jeder anderen Gruppe als diskriminierend empfunden werden würden, die auf „Weiße“ angewendet, aber unkritisch verbreitet werden. Zumal die Kategorie „weiß“ willkürlich ist. Wie „weiß“ muss jemand sein, um dieser Gruppe anzugehören? In den USA gelten z.B. Türken als „Weiße“, während sie in Deutschland als „People of Colour“ gesehen werden. Auch der Umkehrschluss, dass beispielsweise Kritiker des Genderns ein System der Ungleichbehandlung von Frauen wünschen oder unterstützen würden, ist pauschal und falsch. Da zu jedem Kapitel Quellenangaben geliefert werden, kann immer nachvollzogen werden, auf welcher Basis Basad argumentiert.
Nicht nur die interessanten Themenbereiche sorgen für kurzweilige und spannende Lesestunden, sondern auch Basads knackiger Schreibstil. Beeinträchtigt wird der Lesefluss stellenweise allerdings durch die zahlreichen neuen Begrifflichkeiten, die mit dem Thema einhergehen. Diese werden aber gut erklärt, sodass sich die Verwirrung immer wieder schnell auflöst. Wenn man sich nicht vorher schon eingehend mit dem Ganzen auseinandergesetzt hat, dann fungiert das Buch auch deshalb als (sehr) kritische Einführung in die Theorien und Begrifflichkeiten der „woken“ Bewegung.
Fazit:
Judith Sevinç Basads Buch bietet einen kritischen und interessanten Blick auf das Phänomen des „woken“ Aktivismus. Unabhängig davon, ob man ihren Schlussfolgerungen zustimmt oder nicht, erhält man auf jeden Fall viele Denkanstöße, die einen über das Lesen hinaus beschäftigen werden. Zudem wird deutlich, dass die neue Bewegung lediglich ein weiteres Muster bereithält, die Welt zu erklären. Im Grunde handelt es sich um eine Art von Ideologie und keineswegs um eine unumstößliche Wahrheit, der alle Menschen folgen müssen. Wie immer gilt, dass man sich kritisch mit den Argumenten der Befürworter als auch der Gegner auseinandersetzen sollte, um sich selbst positionieren zu können. „Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen was gut und böse ist“ liefert einen guten Einstieg in die aktuelle Kritik am neuen Zeitgeist, den auch seine Befürworter einmal unvoreingenommen lesen sollten, der jedoch auch selbst wiederum kritisch hinterfragt werden kann. Somit handelt sich um einen wichtigen Diskussionsbeitrag.
4/5 Schreibmaschinen
Vielen Dank an den Westend Verlag für ein Rezensionsexemplar des Buches. Einen besonderen Dank an Robin Schmerer, der sich um meine Anfrage engagiert gekümmert hat.
Judith Sevinç Basad
Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen was böse ist
224 Seiten
18€
Westend Verlag