Wir müssen reden über Jim and Andy: The Great Beyond (Dokumentarfilm, Netflix)

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1998 übernahm Jim Carrey die Rolle des Komikers Andy Kaufman im preisgekrönten Man on the Moon. Der Film erzählt vom Leben des legendären Komikers, der 1984 an Lungenkrebs starb. Jim Carrey ist ein großer Fan von ihm und dementsprechend wichtig war ihm die Rolle. Später sollte er dafür mit einem Golden Globe belohnt werden. Die Dreharbeiten wurden von Kaufmans Freundin Lynne Margulies filmisch begleitet. Das Ergebnis ihrer Arbeit wurde allerdings bis 2017 nicht veröffentlicht, angeblich weil das Filmstudio den eigenen Star nicht in einem schlechten Licht erscheinen lassen wollte. Der hatte sich nämlich dermaßen von seiner Rolle fortreißen lassen, dass er sie auch abseits der Dreharbeiten nicht ablegte. 2017 nahm sich der Dokumentarfilmer Chris Smith schließlich Margulies‘ Filmmaterials von hundert Stunden an, führte an zwei Tage ein Interview mit Carrey, und schuf die anderthalbstündige Dokumentation Jim and Andy: The Great Beyond.

Bevor ich Man on the Moon und Truman Show gesehen habe, konnte ich Jim Carrey überhaupt nicht leiden. Sein sehr körperlicher Humor gepaart mit einer lebhaften Gesichtsakrobatik waren überhaupt nicht mein Fall. Als ich allerdings Milos Formans Biopic sah, war ich tatsächlich tief beeindruckt. Nicht nur, aber auch von Jim Carrey. In vielen Komikern steckt wohl auch ein dramatischer Schauspieler und in manchen sogar eine tragische Persönlichkeit. Für mich hat der Dokumentarfilm Jim und Andy viele Fragen aufgeworfen. Im Folgenden möchte ich sie näher beleuchten, ohne zu erwarten, Antworten zu finden.

Die Aufnahmen von 1998 zeigen meiner Meinung, dass Jim Carrey sich so sehr in seine Rolle seines Idols stürzte, dass er sich selbst darin verlor. Im Interview erklärt er heute, dass Kaufman und dessen Alter-Ego Tony Clifton während der damaligen Dreharbeiten quasi die Kontrolle über ihn übernommen hätten. Danny De Vito unterstützt die Behauptung, indem er 1998 sagte, dass Jim lediglich an zwei Drehtagen persönlich anwesend gewesen wäre. Man könnte selbst daran glauben, wenn man Jim Carrey während und zwischen den Dreharbeiten beobachtet. Er spricht von sich in der dritten Person, läuft abseits der Takes im Kostüm und Make-up von Andy bzw. Tony herum und agiert wie sie.

Manche mögen sein Gebaren für grandioses Method Acting halten und denken, er habe die historischen Vorbilder bis ins Schmerzhafte ausgereizt. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass Carrey während der Dreharbeiten tatsächlich ernsthafte Probleme hatte und damit alle Beteiligten.

Vielleicht liegt beiden Annahmen ein grundlegend unterschiedliches Verständnis der Schauspielkunst zugrunde?
Ja, es ist es auf gewisse Weise faszinierend, wenn sich jemand so sehr in eine Figur versenken kann, dass er sich selbst vergisst. Für manche mag die totale Hingabe als höchste Kunst gelten, die ein Schauspieler an den Tag legen kann.
Ich hingegen verstehe unter dieser Kunst die Fähigkeit, fremde Charaktere wie Kleidungsstücke überstülpen zu können. Sie gezielt, natürlich und überzeugend aufzugreifen und nach Drehschluss fallenzulassen. Jim Carrey würde ich in diesem Fall jedoch milde gestimmt Realitätsverlust attestieren oder kritisch fast schon als psychotisch bezeichnen. Dass Regisseur Milos Forman und die Crew auf sein Verhalten angesprungen sind, ihn als Andy bzw. Tony ansprachen und behandelt haben, erinnerte mich an die schwedischen Eriksson-Zwillinge. Sie litten an einer sogenannten induzierten wahnhaften Störung. Das heißt,  dass eine oder in seltenen Fällen mehrere Personen den Wahn eines Betroffenen übernehmen. Natürlich bin ich keine Psychiaterin und ich glaube auch nicht, dass jemand von der Crew tatsächlich davon überzeugt war, es mit Kaufman zu tun zu haben. Vielmehr glaube ich, dass sich die Beteiligten auf Carreys Illusion einließen, um die ohnehin schwierigen Umstände nicht noch zu verschlimmern. Allerdings haben sie ihn so auch in seinem Tun bestätigt.

Jim Carrey gibt heute zu, dass es ihm enorm schwerfiel, sich nach den Dreharbeiten wieder von Andy Kaufman zu lösen und zu seiner eigenen Person und seinem Leben zurückzukehren. Spricht das für oder gegen meine Annahme, dass er ein krankhaftes Verhalten an den Tag gelegt hat? Gegen meine These könnte sprechen, dass er sich lösen konnte. (Interessant wäre hier die Frage, ob es tatsächlich eine/n SchauspielerIn gab, der/die nicht mehr aus einer Rolle auftauchen konnte.) Hat er es aber ohne psychologische Hilfe geschafft?
Ob er nun psychotisch war oder die perfekte Illusion erschaffen wollte, auf mich wirkte sein Verhalten und das seiner Umwelt zunehmend verstörend. Wenn er Andy während dessen Krebserkrankung darstellt und sich zwischen den Szenen im Rollstuhl schieben lässt, schwach und gebeugt durch die Gegend schleicht, dann finde ich das nicht nur übertrieben, sondern unerträglich. Aber sogar Andys Familie schien unter dem Eindruck zu stehen, dass sie ihren Verwandten bei den Dreharbeiten trafen. Manche Zuschauer mögen das bewegend finden und auf gewisse Weise ist es das auch. Ich finde es aber in erster Linie strange und  all das weckte einen mehr als schalen Nachgeschmack.

Vielleicht fußte Carreys Verhalten gar nicht auf einem psychischen Problem, sondern auf seinem Wunsch, Fantasie und Realität verschmelzen zu lassen. Möglicherweise war es eine Art Experiment, wie weit er seine Umfeld überzeugen könnte, dass er wirklich A. Kaufman sei. Inwiefern er ähnliche anarchische Umstände und Situationen erschaffen könnte wie Kaufman. So geht er den Wrestler Jerry Lawler immer wieder an, bis der ihm genau wie einst Kaufman eine verpasst und Carrey ins Krankenhaus muss.

Weder Andy Kaufman und noch viel weniger seine Kunstfigur Tony Clifton waren einfache Persönlichkeiten. Nein, sie waren anstrengende Exzentriker. Indem Carrey ihr Verhalten imitierte, drangsalierte und terrorisierte er seine Umgebung. Man kann das nicht beschönigen. Privat ist er vermutlich kein bösartiger Mensch, aber bei den Dreharbeiten absorbiert er Kaufmans und Cliftons Verhalten so sehr, dass es wirklich unangenehm ist, ihm dabei zuzusehen.
Bei mir hat das eine Archillesferse getroffen. Ich kann es nämlich überhaupt nicht ausstehen, wenn ein Einzelner oder eine kleine Gruppe andere Menschen dominiert und unterdrückt. Die Gründe spielen dafür keine Rolle. Es löst bei mir richtiggehend körperliches Unbehagen und Wut aus. Damit hat mich schon Whiplash auf die Palme gebracht und auch Jim und Andy konnte ich mir nur unter „Qualen“ ansehen. Wenn jemand aus dem Nichts andere anschreit, ihnen Getränken entgegenschleudert, also seine Launen ohne Rücksicht auslebt, dann macht mich das mehr als sauer.  Noch mehr ärgert es mich, wenn niemand dieser Person entgegentritt und ihr das eigene Verhalten spiegelt. Wenn niemand sagt: „Bis hierhin und nicht weiter. Krieg dich wieder ein. Wir machen das nicht mit.“
Verständlich, dass Milos Forman sein Millionenprojekt nicht riskieren wollte, indem er seinen Hauptdarsteller verprellt. Andererseits ist es doch wohl die Aufgabe eines Regisseurs ein angenehmes und produktives Arbeitsklima für alle Beteiligten zu schaffen. Dazu gehört meiner Meinung nach auch, Egotrips, die andere negativ beeinflussen, zu verhindern. Man sieht ihm an, dass Carreys Verhalten ihn genervt und erschöpft hat. Den übrigen Beteiligten ging es ebenso. Sie waren ausgelaugt und ratlos. Gab es vielleicht sogar Konfrontationen, aber der Dokumentarfilmer hat sich dagegen entschieden, sie zu zeigen? Dagegen spricht jedoch, dass der Zwist mit Jerry Lawler in alle Bandbreite dargestellt wurde.
Carrey scheint mit seinem damaligen Verhalten heute nicht mehr rundweg einverstanden zu sein. Allerdings führt er an, dass alle Beteiligten ihn zum Abschluss mit einer Papiertüte auf dem Kopf verabschiedeten. Diese trug er selbst häufig während der Dreharbeiten, ganz im Stil von Kaufman. Für ihn ist das offenbar Beweis genug, dass die Crew die Erfahrung mit ihm durchaus zu schätzen wussten. Ich hingegen glaube, dass es  ein Zeichen der Erleichterung gewesen sein könnte sowie der Versuch, das Projekt positiv zu beenden. Gerne hätte ich nicht nur zufällige Äußerungen der übrigen Crewmitglieder von damals mitbekommen, sondern erfahren, wie sie auf gezielte Fragen zu ihren damaligen Eindrücken und Empfindungen geantwortet hätten.

Über allem schwebt die unausgesprochene Frage, wie weit Kunst gehen darf. „Kunst darf alles.“ ist das Schlagwort und so lange alle damit einverstanden sind, ist das auch okay. Bei mir bleibt aber das Gefühl, dass Jim Carrey seine Position ausgenutzt und es zu weit getrieben hat. Mir blieb das Lachen im Hals stecken, aber vielleicht wollte Carrey genau das bei seinem damaligen Umfeld erreichen. In seinem Interview lässt er tief in seine Seele blicken. Der Künstler wirkt durchaus sympathisch, sensibel und wie ein gereifter Mann, der sein Verhalten sehr offen und kritisch reflektiert. Ob er das 1998 ebenfalls konnte und tatsächlich gemacht hat, sei jedoch dahingestellt.