[Rezension] Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldor

Pici

Robert Scheer besucht seine neunzigjährige Großmutter Elisabeth genannt Pici in Israel. Er möchte diese vielleicht letzte Chance nutzen, mit ihr über die Vergangenheit sprechen. Über die Welt der ungarischen Juden, Picis Familie und wie die Nationalsozialisten schließlich beides zerstörten. Vom Leben in den Ghettos und den unzähligen Gefahren und Schrecken von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern. Mit großer Offenheit und Reflexionsgabe erlaubt sie ihm und dem Leser Einblicke in ihr Leben und ihre Gedanken. Erzählt ihrem Enkel sogar von Dingen, die sie seit vielen Jahrzehnten verfolgen und die sie bisher gegenüber niemandem preisgegeben hat. 
Der Titel weist daraufhin, dass es sich um die Erinnerungen von Pici Scheer, geborene Meisels, handelt. Dies spiegelt sich sowohl in Aufbau als auch Inhalt wider. Und dieser Umstand ist zugleich Stärke und Schwäche des Buches.

In Form eines Gesprächs tauscht Pici sich mit einem Menschen aus zu dem sie eine enge, liebe- und vertrauensvolles Beziehung hat. Robert Scheer stellt gezielte Fragen oder hakt noch nach. Seine Großmutter antwortet oder lenkt selbst die Richtung ihrer Erzählung. Die Art wie sie miteinander sprechen, zeigt immer wieder ihre Verbundenheit und Nähe. Vermutlich ist Pici auch bereit, ihre Erlebnisse zu teilen, um ihren Enkel von seinen Vorfahren zu erzählen. Der Leser erfährt nicht allein etwas über Picis Vergangenheit, sondern erlebt darüber hinaus die Beziehung zwischen Großmutter und Enkel. Das gibt dem Buch ein sehr persönliche Ebene, die dem Leser ermöglicht, eine weitere, emotionalere Verbindung zu Pici zu knüpfen.

Die Form des Gesprächs hat außerdem den Vorteil, dass Picis eigene Worte widergegeben werden. Und diese zeigen sie als eine Frau von großer Klugheit, Weisheit und Bildung.  Auch ist die Übersetzung sehr gelungen und für jeden Leser leicht verständlich. All dies unterscheidet den Text wohltuend von manch wissenschaftlicher Beschreibung.

Doch wie es Erinnerungen eigen ist, folgen sie selten einer vorgegebenen Struktur. Sie verhalten sich eher wie Irrlichter, die unvermutet aufflackern und andere Gedanken durchkreuzen oder abschweifen lassen. So flackern auch in Picis Erzählung Situationen und Begegnungen auf. Eine Überlegung führt unerwartet zu einer weiteren. Menschen und Begebenheiten werden kurz erwähnt, andere näher beschrieben. Das bringt mit sich, dass einige Personen in schneller Abfolge ohne nähere Erläuterungen auftauchen. Das kann auf Leser mitunter sehr verwirrend wirken. Einmal werden drei Frauen nur mit ihren Vornamen erwähnt. So als wisse der Leser bereits, um wen es sich dabei handelt. Erst wenige Seiten später findet sich die Erklärung, wer sie waren und woher Pici sie kannte. Ein anderes Mal wird auf die schrecklichen Ereignisse einer Nacht angespielt, die jedoch nicht näher erläutert werden. Daher bleibt unklar, welche Nacht und Ereignisse gemeint sind. Ob der Leser schon von ihnen gelesen hat oder nicht.
Diese kleinen Unachtsamkeiten ließen sich jedoch bei einer weiteren Auflage leicht redigieren. Die eingefügten Fotos und das Nachwort der Verlegerin fangen außerdem manche Unklarheit ab und bilden wichtige Bestandteile des Gesamtwerks.

Aufgrund der vielen Jahrzehnte, die seit den Ereignissen vergangen sind, gibt es immer weniger Zeitzeugen. Umso unabdingbarer ist es, sie zum Sprechen zu ermutigen, um ihre Lebensgeschichten zu erfahren. Ihnen ein geeignetes Forum zu bieten, um sie behutsam zu sensiblen und erschütternden Themen zu befragen. Fast vergessene Lebenswelten zu beschreiben. Und insbesondere Menschen und ihr Schicksal wieder gegenwärtig zu machen. Jede Erinnerung ist daher kostbar und unersetzlich. Deshalb gebührt Pici und Robert Scheer ein großer Dank, dass sie die Öffentlichkeit an ihren teilhaben lassen.

Vielen Dank an den Verlag und Robert Scheer, dass sie Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldor zur Verfügung gestellt haben.

4/5 Schreibmaschinen

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Robert Scheer, Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldor, Marta-press 2016.

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