Zuerst eine Warnung: Bitte lest den Klappentext der deutschen Ausgabe keinesfalls, bevor ihr den Roman gelesen habt. Sie gibt viel zu viel preis und beeinflusst das Lesevergnügen mit Sicherheit fundamental.
Schottland im Jahr 1863:
Die fünfzehnjährige Irin Bessy findet im Herrenhaus Haivers Castle eine Anstellung als Dienstmagd. Obwohl sich das Haus nicht im besten Zustand befindet und viel Arbeit bedeutet, ist das junge Mädchen froh unterzukommen und zudem fasziniert von Hausherrin Arabella. Als die merkwürdige Dinge von ihrer Untergebenen erwartet, z.B. mitten in der Nacht aufzustehen, sich immer wieder von einem Stuhl zu erheben oder ein Tagebuch über ihre Tätigkeiten, ihre Gefühle und Gedanken zu führen, erfüllt die ihrer Arbeitgeberin gerne die Wünsche. Das heißt aber nicht, dass Bessy sich nichts dabei denken würde. Was steckt hinter Arabellas Wünschen? Was ist mit Bessys Vorgängerin geschehen? Aber nicht nur die Herrin von Haivers Castle hat Geheimnisse, auch ihre Dienstmagd ist nicht, was sie vorgibt zu sein.
Der Roman ist also eine Mischung aus historischem Roman, Coming of Age, Geheimnissen und psychologischen Beobachtungen. Mancher mag Harris vorwerfen, sie könne sich nicht für ein Genre entscheiden. Doch wen stört das, wenn die Mischung so gut abgestimmt ist wie hier. Die Geschichte ist sehr mysteriös, bietet immer neue Entwicklungen, Geheimnisse und Offenbarungen. Als Leser kann man sich auf vieles lange keinen Reim machen und tappt sowohl was Arabella als auch Bessy betrifft lange im Dunkeln. Harris schafft es am Ende sogar, Ungewissheit zu säen. Man fragt sich, ob nicht doch etwas anderes hinter all dem steckt, eine andere Erklärung möglich ist.
Der Roman vereint also verschiedene Genres zu einer undurchsichtigen und fesselnden Geschichte. Der Spannungsaufbau ist zwar gemächlich, aber konstant vorhanden. Zum einen enthüllt sich nach und nach Bessys Vergangenheit, gleichzeitig begleitet man sie durch ihr Leben auf Haivers Castle und beobachtet ihre Entwicklung. Zum anderen gilt es Arabellas Geheimnis und die Geschehnisse vor Bessys Ankunft zu enthüllen. Darüber hinaus entwickelt sich eine spezielle Dynamik zwischen Arbeitgeberin und Angestellter.
Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase entwickelt der Sprachstil eine besondere Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Einerseits orientiert er sich an der historischen Zeit. Andererseits fungiert Bessy als Erzählerin, was sich sprachlich niederschlägt. Ihre Ausdrucksweise ist durch ihre Herkunft geprägt, klingt manchmal etwas schlicht, manchmal etwas naiv, doch sie ist alles andere als das. Sie ist schlau, aufmerksam und fähig, Entscheidungen zu treffen. Eine vielschichtige Protagonistin. Was man von den übrigen Figuren erfährt, spiegelt immer Bessys Kenntnisstand, Eindrücke und Meinung wider. Passender Weise nehmen sie (abgesehen von Arabella) eine untergeordnete Rolle und bleiben oberflächlich.
The Observations ist Janes Harris erster Roman und man kann nur den Hut ziehen, wie gut dieses Debüt gelungen ist. Man sollte nichts Spezielles erwarten und sich stattdessen auf Figuren und Handlung einlassen. Dann wird man von einer wunderschön erzählten, facettenreichen Geschichte überrascht und beeindruckt werden. Sicher wird man nach dem Lesen gedanklich noch ein paar Mal zu Bessy zurückkehren. Und wer mehr Harris‘ Erzählkunst kosten möchte, dem sei Gillespie and I wärmstens ans Herz gelegt.
5/5 Schreibmaschinen